Erzählen in den Zwischenräumen

Was Comics können (Teil 2): Comics richtig lesen von Scott McCloud
Carlsen

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Wer anfängt, sich ernsthaft mit dem Medium Comic zu beschäftigen, sollte zuerst Scott McClouds Standardwerk lesen. Es ist viel mehr als ein Sachbuch darüber, wie Comics funktionieren. Es demonstriert, wovon es spricht – in Comicform. Ein erhellender Geniestreich.

Als ich zum ersten Mal den Titel von Comics richtig lesen sah (etwa vor 15 Jahren), musste ich lachen. So ein Schwachsinn, dachte ich, jetzt wollen sie einem schon das Lesen von Comics beibringen. Bis dato funktionierte meine Methode – von oben links nach unten rechts – ganz gut. Ich weiß nicht, was mich dazu bewegte, dem Buch eine Chance zu geben. Aber eins ist klar: Ich verschlang es. Und seitdem sah ich nicht nur Comics mit anderen Augen, auch Bilder und Symbole. Es nach Jahren wieder zu lesen ist immer noch ein Genuss.

Scott McCloud hat nicht einfach nur ein Buch darüber geschrieben, wie Comics funktionieren. Er hat ein Comic über Comics gemacht. Und das ist im Rückblick wohl die vernünftigste und erhellendste Form, über ein hochkomplexes Medium wie den Comic zu schreiben. Text und Bild bilden eine Einheit, in der sich das eine mit dem anderen mustergültig ergänzt. Ein Transzendental-Comic: es macht, wovon es spricht. Und es demonstriert an sich selbst, was in dem Medium möglich ist. Insofern ist es höchst avantgardistisch. Das klingt komplexer, als es beim Lesen wirkt. Denn es kommt ganz bescheiden daher: schlicht, fast ausschließlich schwarz-weiß und cartoonhaft. Der Autor inszeniert sich selbst als sprechende Comic-Figur, die durch das Buch führt. So macht er sich zum Helden keiner Geschichte, sondern einer Theorie. Das funktioniert? Und wie.

Grundlagen der Medientheorie

McCloud holt den Leser ab, wo er nach den 22 Jahren seit das Buch erstmals erschienen ist, immer noch meist steht: in einer Rechtfertigungsposition. Der Autor verteidigt das Medium gegen die gängigen Vorurteile (wie etwa keine Kunst zu sein) und appelliert daran, die Form nicht mit dem Inhalt zu verwechseln. So banal das klingt, so oft wird dieser Fehler leider immer noch gemacht. Nach einem kurzen historischen Abriss der Bildergeschichte, der zeigt, dass das Erzählen in Bildern eine urmenschliche Kulturtechnik ist, beginnt McCloud mit den Grundlagen der Medientheorie.

Als Paradebeispiel dient ihm Magrittes „Der Verrat der Bilder“. Darauf zu sehen ist eine Pfeife, darunter steht der Text: „C’est n’est pas une pipe.“ Der Autor erklärt, dass es sich tatsächlich nicht um eine Pfeife handele, sondern nur das Bild, ja sogar nur um die gedruckte Reproduktion einer Zeichnung eines Bildes einer Pfeife. Und dann kommt die entscheidende Stelle: „Hast du gehört, was ich gesagt habe?“, fragt die Comicfigur. „Ja? Dann solltest du dir mal die Ohren waschen, denn ich hab nichts gesagt.“

Unsichtbare Kunst

McCloud führt den Leser vor. Er zieht ihm den Boden unter den Füßen weg, auf dem er sicher zu stehen glaubte, und eröffnet ihm eine neue Art der Wahrnehmung. Er erklärt uns die Funktion von Symbolen und Abstraktion, er zeigt uns, dass wir in allem nur uns selbst erkennen und Konventionen zum Opfer fallen. Je abstrakter die Comicfigur, desto eher projizieren wir uns in sie hinein. Vielleicht wirkt auch deshalb Scott McClouds Alter Ego so ansprechend.

Das Erstaunlichste an dem Buch aber ist, dass McCloud eindrücklich vor Augen führt, was das Besondere an der Wirkung von Comics ist. Zwischen zwei Panels kann ein Mord geschehen, ohne dass man es sieht – aber er ist passiert, weil der Leser ihn durch die Kraft der Fantasie (oder Induktion) begangen hat. Das meint McCloud mit der im Untertitel erwähnten „unsichtbaren Kunst“. Das entscheidende passiert zwischen den Panels, im Zwischenraum, der Rinnstein genannt wird. Dort fließt zuweilen das Blut.

„Der Comic-Künstler fordert uns zu einem stummen Tanz mit dem Realen und Imaginären auf. Dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Diesen Tanz gibt es nur im Comic. Keine andere Kunstform gibt ihrem Publikum so viel und verlangt zugleich so viel von ihm. Aus diesem Grund halte ich es für einen Fehler, den Comic bloß als eine Kreuzung der Grafik und der Belletristik zu sehen. Das was zwischen diesen Panels geschieht, ist ein Zauber, den nur der Comic erzeugen kann.“ (Seite 100)

McCloud bezeichnet den Comic später als Balanceakt: „Eine Kunst sowohl des Weglassens als auch des Hinzufügens … und ein verblüffender Tanz von Raum und Zeit.“ McCloud führt vor, wie Raum und Zeit im Comic auf die absonderlichste Weise ineinandergreifen, ohne dass wir es befremdlich finden, sondern ganz intuitiv verstehen. Ein lang gezogenes Panel wirkt wie eine lang gezogene Zeitspanne. Ein kurzes wie eine kurzer Augenblick. Und manchmal scheint es, als würden in einem Panel viele Dinge gleichzeitig passieren und wir lesen sie trotzdem als ein Nacheinander von Ereignissen.

Es ist erstaunlich zu erkennen, was unbewusst geschieht, wenn man Comics liest. Wie es bei diesen scheinbar banalen Zeichnungen auf jeden Strich ankommt, welche Form die Kästchen um sie herum haben und wie eine Erzählung in den Zwischenräumen entsteht. Der deutsche Titel des Buches ist daher irreführend: man lernt nicht, Comics richtig zu lesen – vielmehr, dass es kein richtig oder falsch geben kann. Nein, man lernt – wie es der englische Originaltitel verheißt -, Comics zu verstehen. Nie war es leichter, faszinierender und spannender als in diesem Buch. Wen danach nicht die Lust fürs Medium packt, dem ist nicht mehr zu helfen.

>> Scott McCloud: Comics richtig lesen, Carlsen (Originaltitel: Understanding Comics).

15 Kommentare

  1. Ja, Klassiker was Comicsprache/Semiotik angeht. Ansonsten empfehlenswert:

    Packard: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse (wesentlich trockener, akademischer, aber nichtsdestotrotz sehr gut)

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