Scott McCloud, der große Comic-Theoretiker und -Pionier, hat endlich ein umfangreiches Werk vorgelegt, in dem er zeigt, dass er auch erzählen kann: The Sculptor (dt. Der Bildhauer) handelt von einem faustischen Pakt mit dem Tod, bei dem es um die großen Fragen der Kunst und des gelingenden Lebens geht. Ein großer Wurf.
David Smith. Ein Allerweltsname. Ein Allerweltstyp. Doch der junge Mann möchte kein Allerweltsleben. Er will etwas Außergewöhnliches schaffen: Kunst, als Bildhauer. Leider hat es damit noch nicht geklappt. Nach einem vielversprechenden, aber kurzen Ausflug in die New Yorker Kunstbranche wurde er fallengelassen, jetzt ist er pleite und ohne Perspektive. Dafür aber mit Prinzipien: Keine Almosen zu nehmen ist eines davon. Seine Sturheit macht es nicht leichter, sich durchzuschlagen. Es kommt so weit, dass ihm selbst ein Obdachloser einen Dollarschein anbietet. Als David seinen alten Onkel Harry trifft und der Junge ihm sein Leid klagt, fragt Harry (der auffällig dem Marvel-Pionier Stan Lee ähnlich sieht): „What would you give for art, David?“ Der junge Mann überlegt zwei Panels lang und sagt: „I’d give my life.“ Harry nimmt ihn beim Wort. Vom nächsten Tag an hat David die Superkraft, alles mühelos nach seiner Vorstellung zu formen. 200 Tage lang. Dann muss er sterben.
Denn Harry ist der Tod in Menschengestalt. David hat ihn schon drei Mal getroffen: als Vater, Mutter und Schwester nacheinander starben. David ist der Letzte seiner Familie. Und trotzdem, oder gerade deshalb schließt er den faustischen Pakt mit dem Tod. Doch nach einem euphorischen Anfang – David schafft Dutzende spektakulärer Skulpturen -, ereilt ihn das Pech, er wird aus seiner Wohnung geworfen und landet auf der Straße. Erst dank Meg, einer jungen Frau, die ihm zunächst als Engel erscheint, findet er langsam zurück ins Leben, zur Kunst, zur Liebe. Als ihm die Zeit davonläuft, wird er in seiner Verzweiflung zum Guerilla-Künstler, erschafft über Nacht Plastiken auf der Straße, die Polizei sucht ihn, er schottet sich ab, seine Beziehung leidet und David muss sich wie jeder Künstler, der hoch hinaus will, fragen, was ihm wichtiger ist: Kunst oder Leben. Aber während sein Leben immer kürzer wird, bleibt zweifelhaft, ob seine Kunst länger zu überdauern vermag.
Ein ungewöhnliches Leben hat seinen Preis
Davon handelt – grob gesagt – Scott McClouds The Sculptor (dt. Der Bildhauer), seinem umfangreichsten narrativen Comic (nach seiner Sach-Comic-Trilogie über Comics). Darin erzählt er von den großen Themen: Die Hingabe an eine selbstgewählte Berufung. Das Bewusstsein seiner eigenen Vergänglichkeit, das einem im Nacken sitzt. Der Wille etwas zu schaffen, was über einen selbst hinaus Bestand hat. Soll David eine Beziehung eingehen, wenn er weiß, dass er in einigen Monaten sterben wird? Kann er das seiner Geliebten antun? Oder sollte er sich nicht viel mehr auf die Bildhauerei konzentrieren, bis er endlich seinen Durchbruch erreicht hat? Doch weil sich der nicht einstellt, geht es schließlich auch um die Frage nach der Kunst selbst: Gibt es objektive Maßstäbe für sie oder beruht jedes Kunsturteil auf Willkür? David verzweifelt an diesen Fragen. Und er scheitert an ihnen. Wir sehen dabei zu, wie er planlos dahintreibt, arbeitet, lebt und liebt. Trotz des nahenden Todes, seines klaren Ziels und seiner Superkraft, bleibt er ohnmächtig, gibt seinem Leben keine klare Richtung, sondern verharrt in einem Zustand des Suchens und Irrens. Und darin liegt die Tragik dieser Geschichte. Es geht um vertane Chancen, vergeudete Zeit. Was ist verkehrt an einem gewöhnlichen Leben? Nichts. Aber wer ein ungewöhnliches Leben will, muss bereit sein, einen ungewöhnlichen Preis dafür zu zahlen. Gelingendes Leben gibt es in dieser Geschichte nicht. Weder für die Bescheidenen, noch für die Alleswoller. David weiß, was er will, bekommt aber beim Streben dorthin Zweifel, gerät auf Umwege und geht an dem Druck zugrunde. Seine Freundin Meg, die nicht weiß, was sie will, findet ein Ziel, das ihr abhanden kommt, weil es nicht in ihrer Hand liegt. Davids Freund Ollie gibt sich einem Liebhaber hin, der ihn nur für die eigene Karriere ausnutzt; Ollie weiß das, aber er will auch nicht einsam sein.
Keine Spielereien um ihrer selbst Willen
Bei so einem Stoff, wenn es ums Ganze des menschlichen Daseins geht, läuft man leicht Gefahr, in Gemeinplätze zu geraten. Doch McCloud entgeht den Fallen des Pathetischen, indem er zum einen – wie jeder gute Autor – keine eindeutigen Antworten für seine aufgeworfenen Fragen bietet, und zum anderen einen abwechslunsgreichen Erzählstil pflegt, mit dem er für überraschende Wendungen sorgt, und seine Geschichte mit pointierten Dialogen und Situationskomik auflockert. McCloud beweist Sensibilität für Augenblicke und Figuren. Seine Charaktere sind liebenswürdige Versager: man ärgert sich über sie, man leidet mit ihnen, man lacht über sie. Scott McCloud erzählt in einem schlichten Zeichenstil, mit schwarzen Strichen und blauen Einfärbungen. Dynamik erzeugt er mit ungewöhnlichen Perspektiven. Da gibt es beeindruckende Splash Pages wie die, wo der Gehweg zu einem Kalender wird, an dessen Ende der Abgrund lauert. Da wird die Zeit über Seiten hinweg gedehnt. Da wird ein Lebensabriss zu einer unübersichtlichen Flut von Momentaufnahmen, die sich zunehmend überlagern. Doch solche Effekte sind nie bloß Spielereien um ihrer selbst Willen, sondern Versuche, formal dem Inhalt gerecht zu werden. Trotz der seines Anspruchs und der Erzählfülle bleibt die Story weitgehend schlicht und linear.
Scott McCloud, dem großen praktizierenden Theoretiker des Comics, hat mit The Sculptor einen großen Wurf in der Praxis gelandet. Ihm ist eine Variation der Faust-Geschichte gelungen, die man auf diese Formel bringen könnte: Wer leben will, schließt einen Pakt mit dem Teufel; wer schöpfen will, schließt einen Pakt mit dem Tod. McCloud hat etwas Großes geschaffen, das über ihn hinaus Bestand haben wird. Mögen ihm noch viele Jahre vergönnt sein, damit er uns noch weitere solcher Werke beschert.
>> Scott McCloud: The Sculptor, First Second 2015, dt. Der Bildhauer, Carlsen 2015.
Danke für die Rezension, werde ich mir auf jeden Fall mal im Comic Shop meines Vertrauens anschauen. Bei so einem dicken Werk muss ich was mit dem Artwork anfangen können….