Der Comic wird erwachsen

Was Comics können (Teil 6): Jimmy Corrigan von Chris Ware
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Ein Meisterwerk. Eine Revolution. Ein Jahrhundertcomic. So nannte die deutsche Presse Chris Wares Jimmy Corrigan. Und nichts davon war übertrieben. Wenn es ein Comic gibt, das alles zeigt, was Comics können, dann ist es dieses. Das Lesen ist eine Erfahrung, die den Begriff des Lesens erweitert. Die Handlung ist zwar dünn, wiegt dafür aber umso schwerer.

Wenn es vor einem liegt, wirkt es wie ein Buch. Wenn man darin blättert, wirkt es wie ein Comic. Aber schon das Cover lässt einen staunen: Seltsam angeordnete Bilder und Schrift bringen Rätsel auf. Was soll das überhaupt sein? Was soll das darstellen? Worum geht es hier überhaupt? Der Schutzumschlag lässt sich auffalten, ein großes Chaos wird sichtbar: Diagramme, Stammbäume, Bildsequenzen, ein Bastelbogen, Arabesken, dazu Klappentexte wie eine Kontaktanzeige, eine Patientenbeschreibung, eine Einkaufsliste, Lobpreisungen der Presse. Auf der Rückseite wird eine Familiengeschichte als Kombination von Stammbaum und Comic präsentiert, fast ohne Worte. Aber wo anfangen? Wo beginnt die Geschichte? Wird hier überhaupt eine erzählt? Es wirkt wie ein Spielfeld. Als ob man sich zu viert daran setzen müsste, um das Geflecht gemeinsam entschlüsseln. Der Spaß dürfte den Abend füllen. Und dabei hätte man das Buch nicht einmal aufgeschlagen.

Jimmy Corrigan ist mehr als nur ein Comic. Es ist der Austritt des Mediums aus seiner Unmündigkeit. Man kann retroprophetisch sagen, es sei kein Zufall, dass es Ende der 90er Jahre in Serie herauskam und im Jahr 2000 erstmals als Buch erschien – ein Jahrhundert nach der ersten Sprechblase. Comics für Erwachsene hat es schon früher gegeben (z. B. Ein Vertrag mit Gott, Maus, Watchmen), aber hiermit wird das Medium selbst erwachsen. Warum? Weil es seine bisherigen Horizonte erweitert, sich aber immer noch seiner Tradition stark bewusst ist. Und nicht zuletzt auch, weil es vom Erwachsenwerden handelt.

Existenz als Fehler

Jimmy Corrigan, ein 36-jähriges Muttersöhnchen – kahlköpfig, fettleibig, einsam, verklemmt, comiclesend – trifft seinen Vater, den er nie gekannt hat. Parallel wird die Geschichte von Jimmys Großvater (ebenfalls Jimmy) als Kind um 1893 in Chicago erzählt. In der Rahmenhandlung passiert nicht viel. Weil die beiden Männer, Vater und Sohn, sich nichts zu sagen haben, sitzen sie sich meist schweigend gegenüber und überspielen die Stille mit Verlegenheitshandlungen. Jimmys Vater bemüht sich, nachzuholen, was er versäumt hat. Allerdings gelingt ihm das leidlich, wenn er so Sätze bringt wie: „What … you thought you were the only mistake I ever made? Ha ha.“ Jimmy ist unwohl, er möchte bloß wieder weg oder seine Mutter anrufen oder zum Vatermörder werden. In den Rückblenden wird deutlich, dass die Versager-Mentalität in der Familie liegt. Bereits der Großvater war ein einsames, ungeliebtes Kind. Er wuchs mutterlos bei einem Vater auf, der ihn dafür hasste, dass sie bei der Geburt des Kindes starb. „Son of a bitch“, nennt ihn der Vater, prügelt ihn. Weil der Kleine überall abgelehnt und ausgestoßen wird, flüchtet er sich in eine Fantasiewelt. So auch der Enkel: er verehrt Superman. Doch der Superheld ist nicht besser als sein Vater: ein anonymer Mann, der sich über Jimmys Mutter hermacht.

Der Held ist ein Niemand. Ebenso wie der Held der Geschichte. Jimmy ist das Gegenstück zu einem Superhelden. Ein Niemand, der nichts erlebt. Das größte Abenteuer ist es, eine Frau anzusprechen oder ein paar Tage mit seinem fremden Vater zu verbringen. Hier werden alltägliche Ereignisse zu großen Dramen gesteigert, die sich im Inneren des Protagonisten abspielen. Ein Welttheater. „The Smartest Kid on Earth“ oder „Der klügste Junge der Welt“ ist nicht mehr als ein Untertitel, ein Etikettenschwindel, ein Witz. Es gibt nichts, was Jimmy auszeichnet. Aber umso mehr kann man sich in ihm wiederfinden. Immer wieder driftet die Handlung ins Absurde ab: Jimmy hat Mordfantasien, träumt davon, in einem Metallanzug zu stecken oder mit Superman zu fliegen. Realität und Fiktion gehen fließend ineinander über.

Superman stirbt, Vater erwacht zum Leben

Chris Ware bedient sich klarer Linien mit flächigen Farben, seine Zeichnungen wirken glatt und streng, wie die Simpsons ohne Glubschaugen. Der Unterschied zwischen den Panels einer Sequenz besteht oft nur in Nuancen. Man muss genau hinsehen, um zu erkennen, was sich verändert hat. Manchmal verändert sich nichts, die Bilder wirken so statisch wie die Handlung. Und doch passiert sehr viel in den Details. Wenn etwa der erste Jimmy sein missratenes Bleipferdchen frustriert in den Schnee wirft und dann wieder ausgräbt und sich entschuldigt, entstehen wunderbar wehmütige Momente. Aber auch für herrlich lakonischen und abgründigen Humor ist der Stil ungemein effektiv: In einer Szene sieht Jimmy auf dem Gebäude gegenüber einen Kerl im Superhelden-Kostüm stehen. Sie winken sich zu, dann setzt der Held zum Sprung an. Im Panel darauf liegt er platt auf der Straße. Passanten nähern sich ihm, doch als er Regen einsetzt, gehen die Menschen weg und der Tote bleibt liegen. Das unverhoffte Ende des Jugendidols. Kurz darauf meldet sich der Vater. Man wird erwachsen.

Jimmy Corrigan ist auch ein Comic über Comics. Der Anspruch liest sich zunächst bescheiden: „An improvisatory romance, pictographically configured. Essentially indefensible, no great revelation is likely to yield from its consumption, though we did try“, heißt es in einem Zwischentitel. Auf der ersten Seite, dem Vorsatzblatt, gibt es eine Gebrauchsanweisung, die zugleich einer Rechtfertigung des Mediums gleichkommt. Es sei nicht die Intention des Autors gewesen, ein schweres, seltsames oder undurchdringliches Werk zu produzieren, heißt es da. Zwar seien die Prinzipien des „pictographic theaters“ intuitiv erfassbar, dennoch gebe man unerfahrenen Lesern eine Anleitung, um diese „novel form of imaginary drama“ zu verstehen. Es folgt ein kurzer Abriss der Comic-Geschichte. Comics, so der Schluss, seien die Kulmination von über zwei Jahrtausenden zivilisatorischen Strebens und die höchste Form des menschlichen Ausdrucks. Es sei zu erwarten, dass die künstlerische Überlegenheit bald anerkannt werde und für Jahrhunderte erhalten bleibe. Hier wird deutlich, dass es mit der anfangs behaupteten Bescheidenheit nicht weit her ist. Chris Ware weiß genau, was er tut: er geht in die Vollen. Und nichts bleibt dabei dem Zufall überlassen.

Das Primat des Comics

Das Bewusstsein für die Comic-Geschichte bleibt auch im weiteren Verlauf des Buches präsent. Wir sehen einfache Comicstrips für eine Laterna magica, einen Bastelbogen für ein Zoetrop (eine der frühesten Formen des Films) sowie andere Referenzen auf die Comic-Geschichte im engeren Sinne. Der früheste Zeitpunkt von Jimmy Corrigan spielt 1893, zur Weltausstellung in Chicago. 1895 erschien erstmals der Zeitungsstrip The Yellow Kid, der als Pionier des modernen Comics gilt (wegen des Einsatzes von Sprechblasen ab 1896) und ein segelohriges Kind mit gelbem Nachthemd zum Helden hat. Zehn Jahre darauf begann der klassische Comic-Strip Little Nemo in Slumberland, in dem er Protagonist ebenfalls ein Kind im (weißen) Nachthemd ist. Beim Besuch der Weltausstellung trägt der Ur-Jimmy ein weißes Nachthemd, bis er sich als Erzähler besinnt: „But why was I always wearing this nightshirt? I couldn’t have been dressed like this?“ Im nächsten Panel ist er normal gekleidet, trotzdem kehrt die Darstellung noch zwei Mal zum Nachthemd zurück. Zwischendurch sieht Jimmy mit seinem Vater eine Vorführung von Eadweard Muybridges Zoopraxiskop (einem Vorläufer des Filmprojektors), bei der ein Pferd zum Galoppieren gebracht wird. ‚Bewegte Bilder‘ werden in eine räumliche Abfolge gebracht. Der Film und der moderne Comic sind zeitgleich entstanden, aber hier beansprucht die Bildergeschichte das Primat für sich.

Im dritten Abschnitt der Einführung wird die gesellschaftliche Funktion des Comics als Eskapismus beschrieben. Ein Persönlichkeitstest spielt mit dem Klischee des Durchschnitts-Comic-Lesers: männlich, einsam, sexuell frustriert. Ein anderer Test soll überprüfen, ob man für die Funktionsweise von Comics empfänglich ist. Für den Fall, dass man die einfache Sequenz (Maus schlägt Katze mit Hammer auf den Kopf) nicht versteht, dröselt Chris Ware die Sequenz in ein so komplexes Schema auf, dass selbst ein intelligenter Leser nur schwer durchblickt. Begleitet wird das Ganze von einer kurzen Abhandlung über „Piktorale Sprache“. Jimmy Corrigan ist selbst so ein typischer Comic-Leser: Einer, dessen Persönlichkeitsentwicklung in der Kindheit hängen geblieben ist, der Superman-Comics liest und in Kisten sammelt (siehe Schutzumschlag), ein Außenseiter, seine Welt in der Vorstellung bildet, weil er sich vor der Realität fürchtet. Das Buch führt ihn vor, um eine ganz andere Geschichte zu erzählen, als man sie von Comics erwartet. Keine Helden, keine Action, sondern die harte Wirklichkeit. Dass sich dann doch immer wieder die Imagination in die Realität einschleicht, ist ein Eingeständnis, dass es ganz ohne nicht geht, und irritiert den Leser, der nicht weiß, ob er es mit Fantasie oder Fantastik zu tun hat. Chris Ware bedient sich bei der Tradition, um mit ihr zu brechen. Er bedient Vorurteile, um sie zu widerlegen. Er bedient Comic-Nerds genauso wie elitäre Comic-Skeptiker – und verspottet beide. Kurzum: Er führt das Medium und seine Konsumenten ad absurdum.

Der Leser wird für dumm verkauft

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Besonders deutlich wird das in der Zusammenfassung dessen, was bisher geschah, die nach etwa hundert Seiten kommt: Sie beginnt mit einem „Prolog, worin wir erfahren, dass Jimmy Corrigan, der klügste Junge der Welt, ein einsamer, emotional gestörter Außenseiter ist“ („a lonely, emotionally-impaired human castaway“). Jimmy erscheint zwei Seiten lang als Kind und genauso infantil, fast wie für Idioten, wird die bisherige Geschichte auch noch mal erzählt. Die Doppelseite versammelt nichts als Redundanzen: Wörtliche Wiederholungen, ablenkende Einschübe und unnütze Erklärungen lassen die Sequenz wirken, als machte sich da jemand über die Leser lustig. Sie werden für dumm verkauft, als wären sie selbst Kinder. Zugleich unterläuft diese Zusammenfassung die gängigen Lesekonventionen, indem die Panelanordnung verwirrt, weil sie einen dazu zwingt, die Richtung zu ändern oder weil man sich stets neu orientieren muss, wo die Sequenz weitergeht (das Prinzip durchzieht das ganze Buch). Die Zusammenfassung beginnt mit einer Reihe (alliterierender) Begriffe von Elementen der bisherigen Geschichte, wobei Comics als „stupid“ (im Deutschen „stumpf“) bezeichnet werden.

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Das Buch tut, als wäre es genauso primitiv, wie man es von Comics erwartet, und schafft zugleich etwas Neues und Hochkomplexes. Es wirkt, als begehre das Medium gegen seine Väter und seine Kritiker auf, als machte es sich selbständig, um seine Grenzen zu überwinden und den Kern, das Erzählen mit Bildern (und Text), zu einer neuen Blüte zu bringen. Man muss sich auf ein neues Lese-Erlebnis einstellen, vom Schutzumschlag bis zur letzten Seite. Eigentlich ist es kein Lesen im engeren, linearen Sinn. Mangels eines besseren Wortes müsste man von ‚Rezeptions-Erfahrung‘ sprechen.

Man kann vielleicht kritisieren, dass eine so banale Geschichte so manieristisch aufgeblasen ist. Aber bei einem jungen Erwachsenen kann man getrost über einige Flausen hinwegsehen. Chris Ware schießt nie über sein Ziel hinaus. Das Verspielte, die Detailversessenheit ist das Kunstprinzip dieses Werks, die Überfülle an Ideen macht den Reiz des Buches aus. Allein die Story bleibt vielleicht hinter den Erwartungen zurück. Am Ende löst sich zu viel in Wohlgefallen auf. Jimmy Corrigan überwindet sich nicht, entwickelt sich nicht, er flieht – und findet eher zufällig eine Frau. Wie ist das für das Medium Comic zu verstehen? Dass sich mit der Zeit schon alles fügen wird? Auf dem letzten Bild sehen wir Jimmy als Kind in den Armen von Superman durch den Schnee fliegen. Jimmy wird seiner Fantasie überlassen, ebenso wie wir. Als Leser haben wir eine Erfahrung fürs Leben gemacht, haben unseren Horizont erweitert, unsere Wahrnehmung entwickelt und einen Ausblick auf die glorreiche Zukunft eines Mediums bekommen, das endlich das Selbstvertrauen erlangt hat, das es verdient. Die Superhelden fliegen derweil trotzdem weiter. Ihre Fans bleiben Kinder. Es ist nichts verkehrt daran. Wir verstehen sie jetzt besser. Lassen wir sie fliegen.

>> Chris Ware: Jimmy Corrigan – The Smartest Kid on Earth, Pantheon 2000, dt. Jimmy Corrigan. Der klügste Junge der Welt, Reprodukt 2013.

Bisher im Comic-Grundkurs erschienen:

  1. Warum Comics keine Graphic Novels sind
  2. Erzählen in den Zwischenräumen über Comics richtig lesen von Scott McCloud
  3. Das pralle Leben in Panels über Ein Vertrag mit Gott von Will Eisner
  4. Das Bändigen der Realität im Comic über Maus von Art Spiegelman
  5. Vollendete Universalpoesie über Watchmen von Alan Moore und Dave Gibbons

(Fortsetzung folgt.)

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