Warum erzählt man Geschichten? Zur Unterhaltung, damit dem Menschen (dem Tier, das die Weltleere spüren kann) nicht langweilig wird. Aber auch, um Gemeinschaft zu bilden. Um Sinn zu stiften. Dafür gibt es Mythen über den Ursprung der Welt, Heldenepen und tragische Romanzen. Die Welt ist so viel spannender, so viel fassbarer als Big Drama. Isabel Greenberg hat mit Die Enzyklopädie der Frühen Erde ein Comic gemacht, mit der sie nicht nur eine eigene Welt erschafft, sondern auch gleich ihre Mythologie mitliefert. So ist ihr Buch vor allem eines über das Erzählen selbst.
Worum geht’s? Um einen Jungen aus dem kalten Nordland, der einst dreigeteilt und von drei Müttern aufgezogen wurde, der wieder zusammengesetzt wurde und dem dabei ein Stück Seele verloren ging. Also macht sich der Junge auf die Suche danach, um sich wieder vollständig zu fühlen. Seine Besonderheit: Er ist ein guter Geschichtenerzähler. Und diese Fähigkeit kann er gebrauchen, wenn er in seinem Boot von einer Fremde in die nächste gerät. Das Erzählen bewahrt ihn – wie einst Scheherezade – vor dem Tod, sie beschert ihm ein Auskommen, sie bringt ihm Freunde ein.
Geschichten schaffen Nähe
Am Ende jedoch (und dort beginnt das Buch) schafft das Geschichtenerzählen Nähe, wo sonst keine möglich ist: Der Junge verliebt sich am Südpol in ein Mädchen, dem er wegen einer geheimnisvollen Kraft nie körperlich nah sein kann. Also erzählt er ihr lauter Geschichten, in denen wiederum Geschichten erzählt werden. Das Buch reiht sich damit in die klassische Novellistik des Boccaccioschen Decamerons ein: Erzählen vom Erzählen, um eine Krisensituation zu überstehen. Geschichten können heilsam sein.
Greenberg bedient sich zwar bei bekannten Schöpfungsmythen und zitiert sogar die biblischen Geschichten von der Arche Noah und dem Turm zu Babel, mischt ihre Komponenten aber so gut durch und würzt sie mit einem selbstironischen Erzählstil und einer flapsigen Sprache, dass daraus ein kurzweiliges Vergnügen wird. Ein Beispiel: „Am Anfang war nichts, nur Zeit. Aber weil es niemanden gab, der die Zeit hätte messen können, hätte ebenso gut gar nichts da sein können“, heißt es in der Genesis der Bibel Vogelmann.
„Und dann war da ein Ei. Frag nicht woher, okay. Jede Geschichte braucht einen Anfang, und diese hier beginnt mit einem Ei, das durch einen leeren, unendlichen Kosmos schwebt. Und aus dem Ei schlüpfte VOGELMANN. Der Obermacker, Gottkönig, kosmische Architekt.“
Vogelmann hat zwei Kinder, Raben. Eines davon erschafft die Frühe Erde, von der das Buch handelt. Göttliche Intrigen formen diese Welt. Die Götter aber hocken in einem Baum oder in einem kosmischen Tempel, wo Badewannen und Kloschüsseln herumstehen und Planeten an Fäden von der Decke hängen.
Kartografie von Zuhause aus
Die Welt der „frühen Erde“ ist eine verspielte mit Hang zum Absurden. Der Geschichtenerzähler begegnet einem Kartografen, Mancini Panini, der an Agoraphobie leidet und die Welt nur mit einem Teleskop erforscht. Für Erkundungen schickt er drei nutzlose Affen aus und zeichnet auf dieser Grundlage Karten, die mit der Realität nichts zu tun haben. Ein solcher Stubenhocker, dessen Abbild der Welt jeglicher Grundlage entbehrt, muss zum Antagonisten des abenteuernden Geschichtenerzählers werden. Der Junge überführt den Kartografen und muss fortan selbst dem König dienen, sodass er nicht weiterziehen kann. Da hilft nur eins: Der Erzähler muss sich eine Geschichte einfallen lassen, die so langweilig ist, dass man ihn aus dem Dienst lässt …
Isabel Greenberg zeichnet diese Welt grob, holzschnittartig, mit wenigen Farbakzenten in gelb, rot und blau. Dadurch bekommen ihre Panels etwas Archaisches, aber auch kindlich Primitives. Doch dieser Stil verleiht dem Comic einen universellen Charme, der alle Altersgruppen gleichermaßen ansprechen kann. Man sollte sich einlassen auf diese Fülle von Geschichten aus der Zeit der Frühen Erde, dessen einziger Makel ist, dass Greenberg es nicht geschafft hat, all ihre Ideen in den selbst abgesteckten Rahmen zu integrieren – dafür schiebt sie einige in einem Appendix nach. Doch die gute Zeit, die man beim Lesen hat, entschädigt für diese strukturelle Unbeholfenheit. Man verzeiht der Erzählerin, dass sie zu viel zu erzählen hat. Ein Vorrat an Geschichten kann nicht schaden. Man weiß nie, wann man eine davon braucht.
>> Isabel Greenberg: Die Enzyklopädie der Frühen Erde, Insel 2013/Suhrkamp 2014. (Originalausgabe: The Encyclopedia of Early Earth, Jonathan Cape 2013.)