
Marvel/Panini
Schon James Brown hat es hinausgeschrien: „It is a man’s world. But it would be nothing without a woman or a girl.“ Das gilt auch für Superhelden. Was wäre Superman ohne Lois Lane? Was wäre Batman ohne … äh … okay, schlechtes Beispiel. Bei Marvel geht es jedenfalls auf: Was wäre Daredevil ohne Karen Page? Oder Hulk ohne Betty Ross? Spider-Man hat sogar zwei große Lieben: Gwen Stacy und Mary-Jane Watson. Starke Typen brauchen Frauen, die sie in ihren Heldenrollen beschützen und retten, mit denen sie privat die echten Probleme austragen und dadurch verletzlich, ja menschlich erscheinen.
Jeph Loeb und Tim Sale, das Dreamteam, das die großen Epen für Batman (The Long Halloween, Dark Victory) und eines für Superman (For All Seasons) in den 90ern geschaffen hat, wandte sich Anfang des Jahrtausends drei der größten Marvelhelden zu: Daredevil: Yellow, Spider-Man: Blue und Hulk: Gray. So sind drei Mini-Serien entstanden, die nicht wie bei Batman um ausgeklügelte Noir-Krimi-Plots mit einem enzyklopädischen Aufgebot der Rogues Gallery herum gebaut sind, sondern eher einer Hommage, einer Meditation und Schwelgerei wie in der Mini-Serie Superman for All Seasons entsprechen. Nicht die Story steht im Vordergrund, sondern die Charaktere.
Marvels Farbenlehre
Loeb und Sale erzählen hier nichts Neues, sondern frischen das Altbekannte unter einem anderen Gesichtspunkt auf. Bei Daredevil und Hulk werden die Origins aufbereitet, bei Spider-Man der Übergang zwischen Gwen und MJ, als Peter Parker für kurze Zeit zwischen den beiden Frauen stand, bis Gwen ihren grausamen Tod erlitt. Die Titel ergeben sich zum einen aus dem ursprünglichen Farben der Helden: Daredevils Kostüm war zunächst gelb bevor es rot wurde, genäht aus dem Umhang seines Vaters, Hulk war in den ersten Comics grau bevor er grün wurde. Bei Spider-Man war das Blau schon immer Bestandteil des Kostüms, hier allerdings bedeutet blue so viel wie melancholisch.
Der Hauptreiz liegt allerdings im Visuellen. Tim Sale erweist sich erneut als einer der besten Comickünstler, der nicht nur ein großartiges Gespür für Dramatik und Dynamik, sondern auch für Stimmungen hat. Jedes Buch hat seinen eigenen Stil. Mit nur wenigen Strichen erschafft er dynamische Heldenaction und lebensnahe Figuren. Yellow, Blue und Gray gelten als moderne Klassiker und gehören zu den besten Marvel-Storys. Der Verlag hat die drei Bände in einem wunderbaren Hardcover im Überformat gewürdigt.

Marvel
Jetzt haben Loeb und Sale ihr viertes Farbenbuch, Captain America: White, vollendet. Und auch wenn sie ihre Tugenden beibehalten, brechen sie hier mit der Tradition: Denn dieses Mal geht es nicht um Frauen, um den Gewinn und den Verlust der großen Liebe. Dass Loeb und Sale bei Captain America aber den Verlust von Sidekick Bucky Barnes in den Mittelpunkt stellen, lässt das Verhältnis in einem bestimmten Licht erscheinen, das an Fredric Wertham denken lässt. Jenen wirkmächtigen Psychologen und Comic-Verächter, der Mitte der 50er schon Batman und Robin eine homoerotische Beziehung angedichtet hat. In Captain America: White findet sich davon nichts. Es ist nicht einmal eine Männerfreundschaft zu nennen, sondern eher eine Art Vater-Sohn-Verhältnis oder vielleicht noch eher ein Verhältnis zwischen großem und kleinen Bruder. Der Held, Steve Rogers, leidet an der Schuld des Überlebenden und fragt sich, wie er den Tod seines Schützlings zulassen konnte. Es ist das typische Dilemma, bei dem sich zeigt, dass jugendliche Sidekicks für Superhelden zwar zur Tradition gehören, aber eher der Marketing- als der Storylogik geschuldet sind.
Wie schon bei Spider-Man und Gwen Stacy bleibt die Tragödie der Geschichte ausgespart. Stattdessen erzählt Rogers ein Abenteuer aus der Frühzeit, dem Kriegsjahr 1941. Barnes entdeckt, dass Rogers Cap ist, er wird zum Sidekick Bucky, er rettet Cap bei einem Absturz ins Meer das Leben, indem er dessen Schild von ihm losschneidet – wodurch das Symbol verloren geht. Bei den Frauen erweist sich der kleine Bruder dem großen überlegen: der Kriegsheld zeigt sich zwar furchtlos dabei, Nazis zu verhauen, aber unbeholfen im Intimen. Am Ende kämpfen beide mit ihrer Truppe (Nick Fury und Co.) gegen den Erzfeind Red Skull in Paris.
Eingespieltes Team
Jeph Loeb und Tim Sale ergänzen sich nach all den Jahren immer noch wie ein eingespieltes Team und vollbringen erneut eine Meisterleistung, indem sie mit viel Herz und Humor eine klassische Heldengeschichte erzählen, die vor allem eine Hommage an die ersten Abenteuer der 40er ist. Sales sonst sehr eigenständiger Stil erinnert zuweilen stark an sein Vorbild Jack Kirby, auch wenn er ihn mit einem sehr noiresken Stil verbindet. Dave Stewarts Wasserfarben-artige Farben (wie schon bei Daredevil) bringen die Nostalgie von Propaganda-Plakaten mit sich.
Da kann man über einige Story-Löcher hinwegzusehen, wenn zufällig Namor in der Nähe ist, um Captain Americas Schild aus dem Meer zu fischen und ihm im rechten Moment zuzuwerfen, oder die Frage, wie der Held auf dem Motorrad den Eiffelturm hochfahren kann. Es ist einfach so. Dafür waren Superhelden-Comics schon immer da: das Unmögliche möglich zu machen und dabei gut aussehen zu lassen. Und es macht Spaß: die große Pose, der theatralische Auftritt. Alles, was Superheldencomics immer schon am besten konnten, das wird hier zelebriert.
Die Bedeutung der weißen Farbe
Warum aber der Titel Captain America: White? Die Farben, so erfahren wir im Nachwort, sind mehrdeutig zu verstehen. Daredevil Yellow hatte nicht nur mit dem ersten Kostüm zu tun, yellow heißt im Englischen auf feige – was natürlich zum Mann ohne Furcht ganz gut passt. Spider-Man ist (wie gesagt) blue, also traurig, wegen des Verlusts von Gwen Stacy. Hulk ist die Graustufe als Gegenpol zur Schwarz-weißen Welt von General Ross. Aber die Welt ist nicht so einfach, nicht schwarz und weiß – wie die Wochenvorschauen im Kino, sagt sich Steve Rogers alias Captain America und fragt sich dann doch, ob die Zeit während des Zweiten Weltkriegs im Vergleich zur Gegenwart nicht doch eine einfachere gewesen ist. Die Nazis waren ganz klar die Bösen, die Amerikaner ganz klar die Guten. Schwarz gegen weiß. Vielleicht erklärte sich so der Titel, wenn die Unschuld des Weißen nicht durch den Tod des Gefährten befleckt wäre.
Lupenreine Helden kann es im Krieg nicht geben. Auch wenn sie super sind. Jeder hat seine Bürde zu tragen. Gerade das macht sie menschlich – und damit auch für Normalsterbliche interessant.
>> Jeph Loeb/Tim Sale: Captain America: Weiß, Panini-Verlag 2016.