Riad Sattouf versteht es, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen. In seiner bisher dreibändigen Autobiografie Der Araber von morgen (im September erscheint Band vier) beschreibt er, wie er als Kind den Wahnsinn im Nahen Osten erlebt hat. In der Serie Esthers Tagebücher geht es nicht um eine ungewöhnliche Kindheit, sondern um eine ganz normale: Sattouf beschreibt eine Zehnjährige, die in Paris auf eine Privatschule geht, sie lebt in einer Mittelschicht-Familie mit Vater, Mutter und älterem Bruder.
„Nach einer wahren Geschichte von Esther A.“, heißt es am Ende jeder Seite. Es ist eine Art Boyhood des Comics. Wie Filmemacher Richard Linklater einen Jungen über zwölf Jahre hinweg begleitet und gefilmt hat, so macht es Sattouf mit Esther, die die Tochter von Bekannten ist. Das Projekt ist auf zehn Jahre angelegt, Sattouf zeichnet eine Seite pro Woche im Jahr.
Esthers Welt ist wohlbehütet. Doch wie in jedem Leben spielen sich auch bei ihr Dramen ab: Auch sie hat Träume (Popstar werden) und unerfüllte Wünsche (ein iPhone, das sie aber erst haben darf, wenn sie aufs Gymnasium geht). Sie schwärmt für Jungs und ärgert sich über sie, genauso wie über ihren dummen Bruder, der nicht viel besser ist. Trost und Geborgenheit findet sie bei ihrem geliebten, fast vergötterten Vater, Disneys Rapunzel und Dosenravioli. Und zwischendurch brechen auch Unglücke ein: Einmal sieht Esther, wie ihre Freundin von ihrer Mutter aus nichtigem Anlass eine Backpfeife bekommt. Einmal stirbt der Vater ihrer Freundin Cassandre und sie versucht daraufhin, sich im Klo zu ertränken. Und Esther selbst erlebt Todesängste bei einer Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium.
Esthers Kindheit ist so normal, dass sie viel Identifikationspotenzial bietet. Was sie erlebt, hat jeder ähnlich erlebt. Auch dass Kinder grausam sein können: Freundliche Mitschüler, die einfach anders sind, werden beschimpft und ausgestoßen. Der Junge, der im vergangenen Schuljahr der Coolste war, wird nach einem traumatischen Unfall zu einem Außenseiter, mit dem niemand spricht. Und dann gibt es noch Geschichten über ein perverses Spiel von Jugendlichen, bei denen der Verlierer von den anderen ins Koma getreten wird.
Wie schon beim Araber von morgen in Bezug auf den Nahen Osten kann man hier ständig das Gefühl bekommen, dass es so etwas wie Normalität auch im modernen Frankreich nicht gibt. Bei Sattouf, der einen Sinn für Details hat, ist jeder irgendwie schräg drauf, hat seltsame Ansichten oder Macken – oder offenbart tiefe Abgründe. Esther beobachtet das alles genau, wundert sich darüber und lässt uns daran frei heraus teilhaben. Wir sehen die Welt durch ihre Augen: Es ist ein naiver Blick, aber auch ein staunender und sich wundernder darüber, wie seltsam diese Welt beschaffen ist.
Das lässt einen besonders hart schlucken, wenn am 13. November 2015 die Familie auf dem Sofa sitzt und Rapunzel schaut, die Eltern auf ihren Handys von den Anschlägen lesen und der Vater Esther nur sagt, dass am Montag die Schule ausfällt. Warum, erfährt sie erst am Dienstag von einer Schulfreundin. Es stellt sich die Frage, ob es besser ist, Kinder in solchen Fällen vor schlimmen Nachrichten zu verschonen, oder ob man sie ihnen erklärt – statt dass das Freundinnen tun. Doch auch die Lehrer scheinen rat- und hilflos zu sein, sehen nicht genau hin oder sehen weg. Im Sexualkundeunterricht drückt die Lehrerin sich vor dem Thema Aufklärung und schiebt es zurück zu den Eltern.
Von Esther kann man lernen, die Welt wieder neu zu betrachten. Die Welt wie sie „wirklich“ ist? In einem Kapitel des zweiten Bandes sieht man Esther den ersten Band ihrer „Tagebücher“ lesen und sie bestätigt: „Es stimmt so ziemlich“ – fast. Es ist eben nur ein Comic „nach einer wahren Geschichte“. Aber auch ohne den Vergleich zu haben, kann man sagen: Es steckt viel Wahrheit darin.
>> Riad Sattouf: Esthers Tagebücher. Mein Leben als Zehnjährige, Reprodukt 2017.
>> Riad Sattouf: Esthers Tagebücher. Mein Leben als Elfjährige, Reprodukt 2018.