Jeff Lemire: Sweet Tooth (2009-2013)
Nachdem Jeff Lemire sich mit Essex County und The Nobody einen Namen gemacht hatte, bekam er seine eigene Serie bei Vertigo: Sweet Tooth. Darin erzählt er von einer Dystopie: Die Menschheit wurde von einer mysteriösen Seuche dahingerafft, nur wenige haben überlebt, darunter sind einige Kinder, Hybridwesen zwischen Mensch und Tier. Einer von ihnen ist Gus, ein Neunjähriger mit Hirschgeweih und -ohren. Er lebt allein im Wald mit seinem Vater, der ihm alles beigebracht hat, was er zum Überleben brauchte, darunter die Regel: Verlasse nie den Wald.
Nachdem der Vater tot ist, zieht Gus doch in die Welt hinaus. Angelockt von Schokolade trifft er auf Jepperd, einen schießwütigen, verbitterten Einzelkämpfer, der ihn zu einem Rückzugsort für Kinder wie ihn mitnimmt, beschützt ihn vor lauter wilden Mutanten und Menschen. Und weil Gus gerne Schokolade isst, bekommt er den Spitznamen „Sweet Tooth“. Doch am Ziel angekommen ist alles anders als gedacht … Es stellt sich die Frage: Sind die Mutanten ein Nebenprodukt der Seuche oder ihr Ursprung?
Sweet Tooth wurde einst auf die Formel „Mad Max meets Bambi“ gebracht. Tatsächlich ist da was dran: Es ist die typische postapokalyptische Welt, in der es an allem mangelt, vor allem Moral, und in der der Mensch nur etwas wert ist, wenn er zur Tauschware wird (vor allem Frauen). Ansonsten aber zählt nur das Überleben, dafür geht man über Leichen, jeder ist sich selbst der Nächste, Misstrauen herrscht, denn der andere könnte eine Gefahr sein. Und die Bambi-Anspielung trifft auch ein wiederkehrendes Thema bei Lemire: der Tod der Eltern.
Die Hybrid-Thematik verleiht dieser Welt jedoch eine interessante Komponente. Hierfür bedient sich Lemire – wie schon The Nobody – erneut bei H.G. Wells, in dem Fall zitiert er die Die Insel des Dr. Moreau. Mit dem Verlust der Gesellschaftsordnung werden Menschen wieder zu Tieren – das stimmt in dem Fall auch buchstäblich, wobei die wahren Tiermenschen einerseits die Opfer sind (eingesperrt und abgeschlachtet werden), andererseits die Keimzelle für eine neue Gesellschaft, die die Seuche übersteht. Lemire lädt die Hybride noch mythologisch auf, indem er sie mit indianischen Göttern in Verbindung bringt. Indem sie an die chimärenhaften Götter der Antike erinnern, nimmt es ihnen ihre Monstrosität.
Es geht äußerst grausam und brutal zur Sache, aber auch äußerst spannend. Die Handlung treibt unermüdlich voran, bietet starke Wendungen und viele emotionale Höhepunkte. Lemire schont seine Charaktere nicht, lässt sich aber zwischendrin genug Zeit, um ihnen Tiefe zu verleihen und auch den furchtbarsten Schurken Menschlichkeit zu entlocken, einige werden sogar zum Guten bekehrt. Das führt aber dazu, dass die Mutanten-Kinder, allen voran der Titelcharakter, zwischendurch in den Hintergrund geraten. Nicht nur, dass die Erwachsenen handlungstragender sind und ausführlicher behandelt werden, auch scheint es, als würde der Autor zwischendurch vergessen, dass es sich um Kinder handelt. Es wird kaum erwähnt, dass die Kinder traumatisiert sind von der Gefangenschaft und der Gewalt, die sie mitansehen müssen.
Gewalt wird zu einer Notwendigkeit, die jeder zu akzeptieren scheint. Auch Gus, obwohl er eigentlich Vegetarier ist, weil er von seinem Vater gelernt hat, dass man kein Tier töten darf. Trotzdem wird er zweimal zum Mörder in Notwehr, einmal sogar gegen ein anderen Hybriden. Gewissensbisse plagen ihn nur kurz. Als später ein Schurke hingerichtet werden soll, erhebt Gus seine Stimme dagegen. Doch dann lässt er diesen in die Kälte verbannen – verletzt und ohne Jacke im Schnee wird er dem sicheren Tod preisgegeben. Das macht es aus moralischer Sicht nicht wirklich besser.
Trotz dieser Schwächen ist Sweet Tooth reich genug an Rätseln, interessanten Situationen und Figuren, aber auch ausdrucksstark und zuweilen auch experimentell gestaltet. Traumsequenzen koloriert Lemire selbst mit Wasserfarben, er spielt mit verschiedenen Seitenarchitekturen, lässt manchmal zwei Erzählstränge auf jeder Seite parallel laufen, einige Rückblenden werden von talentierten Gastzeichnern wie Matt Kindt gestaltet, die sich wunderbar ins Gesamtbild fügen, und einige Passagen in ruhigeren Kapiteln werden sogar überwiegend in Prosa erzählt und die Bilder dienen am Rand der reinen Illustration.
Insgesamt ist Sweet Tooth ein aufregender Trip, der nie langweilig wird. Keine der 900 Seiten ist zu viel.
>> Jeff Lemire: Sweet Tooth, 40 Ausgaben, 6 Paperbacks, Vertigo 2009-2013; dt. Panini 2012-2014.
>> Deluxe Edition (Hardcover/Paperback 3 Bde.) 2015-2016
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