Jeff Lemire: Royal City
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Wenn eine Familie sich auseinandergelebt hat, bringt sie erst ein Unglücksfall zusammen. So geschieht es in Royal City, einer Kleinstadt in den USA: Der Vater erleidet einen Schlaganfall, der älteste Sohn Pat kommt aus Los Angeles angereist, Schwester Tara lebt noch in der Stadt, ebenso wie der jüngere Bruder Richie, aber der hat schon lange den Kontakt abgebrochen. Doch da ist noch ein viertes Kind: Tommy – er verbindet, was zusammengehört. Er ist 1993 mit 14 Jahren gestorben, aber trotzdem erscheint er jedem Familienmitglied immer noch. Und jedes Mal anders: Dem Vater als Kind, der Mutter als Priester, der mit ihr betet, Richie als Saufkumpane, Tara erscheint er als das Kind, auf das sie als große Schwester einst aufgepasst hat. Doch Tommy ist keineswegs nur Einbildung.
Jedes Familienmitglied hat eigentlich andere Sorgen: Karriere und kaputte Beziehungen. Pat ist ein Schriftsteller, der nach seinem ersten Bucherfolg einen Flop herausgebracht hat und nun mit seinem dritten hinterherhinkt. Für seinen Erstling hatte er sich beim Tagebuch seines toten Brudes Tommy bedient. Seine Ehe mit einer Schauspielerin zerbricht. Tara, eine Immobilienmaklerin, will die Fabrik der Stadt – den Hauptarbeitgeber – gegen eine Freizeitanlage ersetzen, doch dagegen wehrt sich ihr Mann, der in der Fabrik arbeitet. Auch diese Ehe zerbricht. Und Richie, ein Trinker und Spieler, hat 2000 Dollar Schulden bei einer Rockerbande und muss das Geld innerhalb einer Woche zusammenkratzen. Die Mutter hat eine Affäre.
Im zweiten Band erfahren wir, was mit Tommy geschehen ist: Ein Außenseiter, der unter heftiger werdenden Kopfschmerzen litt, der den Fehler beging, zu seinen Tabletten Alkohol zu trinken und der noch entjungfert wurde, bevor er starb. Wir lesen seine letzten Aufzeichnungen, aus denen der Bruder später einen Roman macht. Aus der Teenager-Perspektive wird deutlich, wie beklemmend es sich anfühlt, in einer industriellen Kleinstadt aufzuwachsen, wie abhängig die Stadt von der Fabrik ist, in der die Menschen wie in einer Tretmühle arbeiten. Das Leben ist determiniert. Die meisten ergeben sich in ihr Schicksal und leben so wie die anderen.
Besonders exemplarisch dafür ist das Leben von Pat, der die Mühle nicht will, aber aus Mangel an Alternativen trotzdem nach der Schule in der Fabrik jobbt. Als er aufhört, um Schriftsteller zu werden, weiß er aber nicht, worüber er schreiben soll. Daher bedient er sich bei einem Toten. Er verlässt Royal City so schnell er kannt, versucht ein anderer Mensch zu werden, aber jedes Mal, wenn er zurückkehrt, fühlt es sich für ihn an, als schlüpfte er wieder zurück in seine alte Haut. Eindringlich beschreibt er das ambivalente Gefühl, als ein Hybrid zwischen zwei verschiedenen Persönlichkeiten zu leben. Es ist ein Gefühl der Leere.
Jeff Lemire widmet sich hier erneut dem Leben in der Enge einer Kleinstadt. Wie schon in Essex County, The Nobody und Roughneck macht sich hier eine Melancholie breit, in der der alte Konflikt zwischen Bindungsbedürfnis und Freiheitsdrang ausgebreitet wird: Partnerschaft, Familie, Karriere – man will das Alte loslassen und das Neue wagen, aber das Alte lässt einen nicht los. Das wird Streit um die Zukunft der Fabrik deutlich: das Alte soll dem Neuen weichen. Aber das Neue hat es schwer. Genauso ist es in der Familie: Der kleinste Bruder Tommy ist tot, kann aber nicht von den Lebenden lassen (oder sie nicht von ihm) und Tara hat einige Fehlgeburten erlitten, will es nicht noch einmal versuchen – ihr Geisterbruder dient ihr als Kindersatz. Gleichzeitig dient die antike Radiosammlung des Vaters als Lösung für Richies Geldsorgen.
Lemire hat mit seiner Serie mal wieder ein hochinteressantes Werk geschaffen, mit einer spannenden Grundidee, in der er dem alten Geistermotiv einen neuen Aspekt abgewinnt. Wie üblich entwirft er starke Figuren, deren Motivation man nachvollziehen kann, und inszeniert sie in visuell beeindruckenden Zeichnungen und Wasserfarben, die die Melancholie wie in Tränen verschwimmen lassen.
>> Jeff Lemire: Royal City, 2 Bde., Image 2017-2018. Band 3 erscheint im Oktober 2018. (Keine deutsche Ausgabe.)
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