Will Eisner ist nicht nur einer der wichtigsten Comic-Autoren, -Zeichner und -Theoretiker, er hat mit seinem Werk auch einen großen Beitrag dazu geleistet, das jüdische Leben in den USA darzustellen. Dahinter steckte das Bedürfnis, sich mit seiner eigenen Herkunft und seinen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Diskriminierung war auch in dem Amerika, das gegen Hitler kämpfte, keine Ausnahme.
Und doch hat der große Aufklärer gegen Vorurteile sich selbst versündigt, indem er für seine Serie The Spirit eine Figur schuf, die selbst rassistische Klischees bediente. Der Sidekick Ebony war ein schwarzer Junge mit extrem dicken Lippen, der ein schlechtes Englisch sprach. Nach dem Krieg erkannte Eisner seinen Fehler, der – wie er selbst sagt – eher Naivität als Boshaftigkeit geschuldet war. Er änderte die Figur. Trotzdem nagte die Sache an ihm. Und in seinen späteren Graphic Novels (z.B. Ein Vertrag mit Gott) behandelte er immer wieder die Vorurteile gegen Juden.
In Fagin the Jew (dt. Ich bin Fagin) versucht er, einen Fehler zu korrigieren, der Charles Dickens unterlaufen ist. Fagin ist ein Schurke aus dem Roman Oliver Twist und er entspricht dem Klischee des gaunerhaften Juden. Dickens selbst musste sich damals für seine Darstellung rechtfertigen, vor allem dafür, dass er Fagin immer wieder als „the Jew“ bezeichnete, als wäre er paradigmatisch für ein ganzes Volk, was er bei anderen Figuren nicht tat. Will Eisner versucht, die Figur in ein anderes Licht zu rücken, indem er dessen Vorgeschichte erzählt. Oder besser gesagt: erzählen lässt. Denn Fagin klagt Charles Dickens persönlich sein Leid.
Moses Fagin stammt aus einer jüdischen Familie aus Mitteleuropa, den sogenannten Aschkenasim. Um Progromen zu entgehen, zog die Familie nach London. Da ging es zwar liberaler zu, aber die Aschkenasim waren im Gegensatz zu den etablierten Sephardim (Juden von der iberischen Halbinsel) immer noch stärker diskriminiert. Fagin muss sich schon als kleiner Junge auf der Straße durchschlagen: als Hausierer mit Knöpfen und Nadeln. Er sieht zu, wie sein Vater totgeschlagen wird, nachdem er den Gewinn einer Wette einholen will. Dann wird Fagin notgedrungen zum Dieb. Er bekommt zwar später eine Chance als Dienstbote und Hausmeister, wird aber zu Unrecht verstoßen, gerät wieder unter Diebe, wird versklavt, bis er nach weiteren Demütigungen zur Dickenschen Version wird.
Eisner zeigt, dass Vorurteile zwar oft einen wahren Kern haben, aber dass dieser auch seine Ursachen hat. Zwar gab es im London des 17. und 18. Jahrhunderts jüdische Diebe, aber auch nur weil es ihnen nicht möglich war, sozial aufzusteigen. Eisner zeichnet den Teufelskreis nach: Vorurteile verhindern, dass sich etwas an den Missständen ändert, die Missstände bedingen die Vorurteile – und die haben selbst Juden untereinander. Damit ist die Geschichte von Fagin durchaus tragisch: Der Dieb, der in Oliver Twist Kinder für sich arbeiten lässt, ist selbst Opfer der Umstände.
Wie üblich in Eisners Comics hetzt die Handlung von einer Wendung zur nächsten, Zeit zum Verschnaufen gibt es kaum, alles steuert direkt auf ein elendes Ende hin. Meisterhaft inszeniert er seine Geschichte mit liebevoll gezeichneten Figuren und lässt eine vergangene Epoche lebendig und glaubwürdig erscheinen. Auch wenn sich die Moral von selbst erschließt, lässt Eisner Fagin am Ende predigen. Die Romanfigur klagt sogar ihren Schöpfer Dickens an. Doch der verspricht nur, in seinen späteren Büchern die Juden ausgewogener darzustellen.
Diese Szene hätte es nicht unbedingt gebraucht, um klar zu machen, worauf Eisner hinauswill. Damit auch gar keine Missverständnisse aufkommen, gibt es zur Erklärung der Hintergründe auch zwei ausführliche Vor- und zwei Nachworte.
>> Will Eisner: Fagin the Jew, 2003 (dt. Ich bin Fagin, Egmont Graphic Novel 2015).