Comic

Mark Millar: The Secret Service – Kingsman

Wenn Menschen eine Verfilmung gesehen haben, heißt es meistens: Das Buch war viel besser. Aber das ist nicht immer so. Manchmal liefern Bücher nur eine Vorlage für ein ganz neues Werk eigenen Rechts. Und manchmal dienen sie nur als Inspirationsquelle für Filme, die sie an Qualität sogar übertreffen.

So ist es auch bei The Secret Service von Mark Millar und Dave Gibbons, das als Kingsman adaptiert wurde. Ein Nichtsnutz aus der englischen Unterschicht wird zum Super-Geheimagenten und rettet die Welt. Das ist kurzgefasst die Story. Wenn man die beiden Werke vergleicht, sieht man so große Unterschiede, dass Comic und Film völlig eigenständig sind. Und das ist bemerkenswert. Schon Wanted wurde so verfilmt, dass der Comic lediglich als Inspirationsquelle gelten konnte, aber im Grunde hatte der Film nichts mit der Vorlage zu tun. Hier aber nimmt sich der Film die Grundidee und baut sie sogar zu einem viel stimmigeren Werk aus, das zum einen viel überdrehter – also comicmäßiger -, zum anderen aber auch glaubhafter als das Original ist.

Dabei beginnt der Comic zunächst stärker. Hier ist es Mark Hammil (Luke Skywalker) persönlich, der von den Bösen entführt werden soll. Seine Entführer fragen ihn nach seiner Meinung zu den Star Wars-Prequels, er wird gerettet, aber die Rettung scheitert kläglich – eine wunderbare Sequenz voller schrägem Humor. Im Film kommt zwar Mark Hamill vor, aber nicht als er selbst: Er spielt nur einen Wissenschaftler. Das ergibt für den Plot mehr Sinn, aber leider fehlt auch der tolle Abschluss der Szene.

Wie der Agent Jack London den jungen Eggsy rekrutiert, wird im Film jedoch glaubwürdiger gemacht. Hier wie da müsste er längst über das Alter hinaus sein, in dem man sich noch zu einem Super-Agenten formen lassen kann. Aber im Film wird der junge Mann als geistig und körperlich ziemlich fit eingeführt, während er im Comic bloß vor der Spielkonsole sitzt. Im Film sieht man mehr von der Ausbildung, während im Comic ein Großteil davon übersprungen wird, um die Handlung voranzutreiben.

Was der Film viel stärker zelebriert, ist der englische Stil, in Kleidung und Accessoires, der so sehr übertrieben wird, dass er vom Klischee zum Inbegriff der Coolness wird. Wenn Colin Firth eine Bar voller Rüpel vermöbelt, ist das dank Schirm und herrlicher Choreografie so beeindruckend, dass die kurze Sequenz im Comic da nicht mithalten kann. Gleiches gilt auch für das spätere Gemetzel. Im Comic testet der Schurke seine Waffe, indem er bei einer Massenhochzeit die Paare sich gegenseitig umbringen lässt, im Film wird stattdessen eine Kirchengemeinde zu blutrünstigen Zombies verwandelt, was eine viel gewagtere Botschaft sendet. Allerdings: Auch bei der Hochzeit heißt es, es sei besser, die Paare würden sich schon jetzt als erst nach Jahren an die Gurgel gehen.

Im Comic ist der Schurke ein blasser Nerd, der die Menschheit dezimieren will, um den Weltuntergang aufzuhalten, im Film bekommt die Figur dank Samuel L. Jacksons Darstellung mehr Charakter: Er lispelt und lässt sich McDonald’s-Burger liefern. Statt der Bodyguards ist es im Film seine Gefährtin, die auf Prothesen herumläuft – und diese auch noch als Waffen einsetzt.

Comic und Film ergänzen sich in vielen Aspekten, aber am Ende muss man feststellen: The Secret Service ist eines von Mark Millars schwächeren Werken. Auch weil Dave Gibbons (Watchmen) Zeichnungen etwas altbacken aussehen. Umso bemerkenswerter ist, dass aus dem Stoff ein Film gemacht wurde, der das Beste übernimmt und sich so frei davon macht, etwas zu erschaffen, das wie eine stärkere Version des Comics wirkt. Ein Kondensat, eine Essenz, die länger in Erinnerung bleibt.

>> Mark Millar/Dave Gibbons: The Secret Service – Kingsman

Jeff Lemire: Frogcatchers

frogcatchers cover

Simon & Shuster

Ein Mann wacht in einem Hotel mit Meerblick auf. Er weiß anscheinend nicht, wie er da hingekommen ist. Er findet einen Schlüssel für das Zimmer 309, an der Tür ist ein Frosch angenagelt. Ein Junge führt ihn in den Keller, dort sollen sie sich vor dem Frog King verstecken. Er warnt den Mann vor dem Zimmer 309, weil dort die schlimmsten Ängste wahr werden können. Dann tauchen plötzlich zwei Froschmenschen auf, sie fliehen ins Zimmer 309 und finden einen alten kranken Mann in einem Krankenhausbett …

Unter all den Comics wie Black Hammer, Gideon Falls und Descender/Ascender findet Jeff Lemire noch Zeit für kleine, persönliche Projekte, die er selbst zeichnet. Mit Frogcatchers knüpft er zum einen an seinen Mystery-Comic The Underwater Welder (dt. Der Unterwasserschweißer) an und zugleich an seine Lieblingsthematik: die eigene Vergänglichkeit im Tod.

Lemire findet dafür eine sehr raue Bildsprache: Seine Striche wirken unruhig und skizzenhaft, die surrealen Sequenzen scheinen mehr ein Entwurf als ein fertiges Werk zu sein. Lemire verlässt sich mehr auf seine Bilder als auf die Sprache, er braucht lange, um jemanden sprechen zu lassen und auch dann wird nur das Nötigste geredet.

Die Story handelt nicht von Charakteren. Sie spielt sich auf einer symbolischen Ebene ab und wirkt damit eher wie eine Parabel mit universaler Gültigkeit. Die Frösche werden zum Sinnbild fürs Leben, das man nur einfängt, um es wieder loszulassen. Die Erinnerung an das jüngere Ich wird zum Sterbebegleiter. Das ist sentimental, an der Grenze zum Banalen.

Frogcatchers ist ein Comic, das man zu schnell liest, als dass etwas davon hängen bleiben könnte. Einerseits wünscht man sich mehr, andererseits wirken Träume oder Nahtoderlebnisse auf Dauer auch zu ermüdend, um ein ganzes Buch damit zu füllen. So ist Frogcatchers nur ein Nebenwerk von Lemire, das man einmal als Paperback lesen kann.

Black Hammer: Streets of Spiral

black hammer streets of spiral

Dark Horse Comics

Erst im Dezember erscheint der nächste Black Hammer-Band, Age of Doom Part 2, aber bis dahin beliefert Autor Jeff Lemire zuverlässig seine Fans mit neuem Material, um die Wartezeit zu verkürzen und erweitert sein Universum.

Der Band Streets of Spiral versammelt drei Geschichten, die bisher in Einzelheften erschienen sind. Die erste, „Giant Sized Annual“, spielt in der Zeit vor der Farm-Storyline und erzählt, wie die Helden zu verschiedenen Zeiten mit einem mysteriösen Wesen kämpften, ein Risenauge mit Tentakeln, das sich gerne auf den Köpfen von Menschen festsetzt. Wir sehen Abraham Slam, Barbalien, Golden Gail, Madame Dragonfly und Colonel Weird ihre Erfahrungen mit dem Wesen sammeln, das sich jedes Mal leicht in die Flucht schlagen lässt, aber am Ende doch rätselhaft bleibt. Nur Weird scheint mehr zu wissen, aber leider lässt er die Leser nicht daran teilhaben.

Wie so oft bleibt der Eindruck zurück, dass Lemire Erwartungen aufbaut, um zu etwas viel Größerem hinzuleiten. Die Geschichte ist trotz des immergleichen Ablaufs interessant erzählt, weil jede Episode von einem anderen Zeichner dargestellt wird, darunter sind Künstler wie Nate Powell (Come Again), Matt Kindt, Dustin Nguyen (Descender) und Mike Allred. Besonders eindrucksvoll sind die aquarellierten Seiten von Ray Fawkes.

Die zweite Story ist ein Spin-off zu einem Nebencharakter: Chtu-Louise ist die Tochter des ehemaligen Schurken Chtu-Lou, ein Klempner, der seit einer Begegnung mit einem Tentakelwesen zu einem Zwitter-Monster mutiert ist. Seine Tochter trägt das gleiche Stigma – und leidet darunter, weil sie gehänselt wird. Da verspricht ihr der Großvater, jenes Tentakelwesen Erlösung …

Black Hammer Straßen von Spiral City

Splitter-Verlag

Chtu-Louise ist eine typische Geschichte über Diskriminierung und den Wunsch, normal zu sein. Dabei nimmt die Story eine drastische Wendung, die zwar schlüssig endet, aber doch nah am Kitsch gebaut ist.

Schließlich wird mit „Horrors to Come“ wieder nur eine Art Teaser für die große Geschichte erzählt. Lauter Andeutungen, ohne Handlung – das ist etwas dürftig. Lemire hat viele Geheimnisse im Gepäck, aber statt immer mehr davon aufzubieten, sollte er lieber Fragen beantworten. Eine ist zum Beispiel, warum er in diesem Band Doctor Star plötzlich „Doctor Andromeda“ nennt. Offenbar hat er sich anders überlegt. Hat sich etwa DCs Rechtsabteilung beschwert oder steckt dahinter ein größerer Plan?

Ansonsten ist der Rest von Streets of Spiral mit einem Who-is-Who des Black Hammer-Universums gefüllt. Aufmerksame Leser brauchen die Charakter-Biografien nicht, sie können aber als Erinnerungsstützen dienen. Doch wenn am Ende auch noch ein paar Seiten mit Skizzen und Entwürfen kommen, bleibt der Verdacht, dass man hier mit Müh und Not einen Band füllen wollte, dem es an Material mangelt, um einen Preis von 20 US-Dollar zu rechtfertigen. Wer das Ding nicht im Regal braucht, dem sei zur digitalen Version bei Comixology geraten – die ist nur halb so teuer.

>> Jeff Lemire u.a.: Black Hammer: Streets of Spiral, Dark Horse 2019 (dt. Straßen von Spiral City, Splitter Verlag 2019).

Mehr Black Hammer:

Mark Millar: Supercrooks

Marvel Comics

Kaum ist der Supergauner Johnny Bolt aus dem Knast raus, plant er schon das nächste Ding. Aber nicht irgendein Ding. Das Ding schlechthin. Eins für die Geschichtsbücher. Und dann noch eins für einen guten Zweck. Denn Johnnys alter Mitstreiter Carmine hat sich mit fiesen Casino-Gangstern angelegt, wollte sie um zwölf Millionen Dollar betrügen und jetzt soll er ihnen als Wiedergutmachung innerhalb eines Monats 100 Millionen Dollar bringen. Johnny trommelt noch ein paar Kollegen zusammen und zwingt sogar einen Superhelden, Guardian, dazu, ihnen zu helfen. Das Ziel: The Bastard. Der berüchtigteste Superschurke der Welt. Er hat sich mit 800 Millionen Dollar auf Teneriffa zur Ruhe gesetzt. Aber der Schein trügt.

„Ocean’s Eleven trifft X-Men“ lautet die Formel, mit der Supercrooks beworben wird – aber das trifft es nicht ganz, denn gehört noch ein drittes Element dazu: Mark Millar. Und das bedeutet (wie schon bei Wanted oder Nemesis) viel extreme Gewalt. Viel Blut, abgetrennte Körperteile und explodierende Schädel. Und wie immer pendelt die Gewalt irgendwo zwischen Grausamkeit und schwarzem Humor, oft an der Grenze des guten Geschmacks.

Doch wenn Millar eins raus hat, dann ist es die Formel für gute, kurzweilige Unterhaltung. Sympathische Charaktere, die sich viel trauen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb Mark Millar nach all den Jahren auch mit seinen eigenen Comics dem Genre der Superhelden treu bleibt: Er kann immer wieder ins Extrem gehen und das Genre neu definieren.

Leinil Yu, der auch Superior gezeichnet hat, beweist mit seinem Stil erneut viel Liebe zum Detail, Dynamik und zu großen Brüsten. Der Heist an sich ist leider nicht so smart wie angekündigt: Im Grunde arbeitet sich das Team bloß von Hindernis zu Hindernis und jeder darf sich mal behaupten. Aber am Ende macht die obligatorische überraschende Wendung alles wieder gut. Und so darf auch Schurken ein überaus glückliches Happy End gegönnt sein.

George Orwell als Comic-Biografie

George Orwell (Graphic Novel)

Knesebeck Verlag

Man könne George Orwells Geschichte auf mehrere Weisen beginnen, heißt es zu Beginn des Comics. Die Möglichkeiten werden angedeutet. Aber stattdessen nehmen Pierre Christin und Sébastien Verdier den einfachsten Weg, um diese Geschichte zu erzählen – es ist der denkbar langweiligste.

Autor und Zeichner erzählen in chronologischer Reihenfolge den Werdegang von Eric Blair, wie Orwell bürgerlich hieß, nach. Von der Schule, über das Elite-College Eton, über den Militärdienst in Burma, die Straßen von Paris, den Spanischen Bürgerkrieg bis zur Karriere als Schriftsteller.

Hier werden lauter Lebensstationen abgehakt, mit Anekdoten angereichert, jedoch ohne dabei den interessanten Menschen zu erklären. Viel zu selten lassen sie ihn zu Wort kommen, etwa um verständlich zu machen, warum er zeitweilig ein Leben am Rand der Gesellschaft führte. Die Tatsache, dass er ein Nonkoformist war, hilft da nicht weiter. Und so sehen wir Orwell mehr als Heimgärtner und Tierzüchter, weniger als Autor in Aktion.

Auf Orwells Werke lassen Christin und Verdier andere Künstler eingehen. Jeweils eine Doppelseite bekommen die kurzen Auszüge aus den Büchern, die meist nur mit einem großen Bild illustriert werden (zum Beispiel von Manu Larcenet). Im Nachwort erklären die Autoren zwar, dass sie die Leser nicht mit seelenleeren Exzerpten abspeisen wollten, aber so erfährt man eben nur wenig über die Bücher, gerade die abseits von Farm der Tiere und 1984.

Sébastien Verdier ist ein sehr naturalistischer, detailversessener Künstler, der jeden einzelnen Backstein zeichnet. Sein präziser Stil lässt jedoch diesen Comic nur allzu brav erscheinen. Die deutsche Ausgabe trübt zudem die Lektüre mit generischem Lettering und inkosequent übersetzten Stellen. Am Ende bleibt das unbefriedigende Gefühl zurück, dass man die Zeit, die man ins Lesen dieser 150 Seiten investiert hat, hätte besser nutzen können.

Leider ist diese Fantasielosigkeit ein Rezept allzu vieler Comic-Biografien.

>> Pierre Christin/Sébastien Verdier: George Orwell, Knesebeck Verlag 2019.

Mark Millar: Nemesis

Nemesis

Marvel Comics

Denken wir uns den ultimativen Schurken. Schlauer als Lex Luthor, tödlicher als der Joker, böser als Darth Vader – und dann hat man immer noch nicht Nemesis. Der weißgekleidete Super-Schurke, den sich Mark Millar (The Magic Order, Prodigy) ausgedacht hat, ist so böse, so respektlos und allen so überlegen, dass es schon beim Lesen wehtut. Gleich zu Beginn lässt er in Japan einen Hotelturm einstürzen, einen Mann vom Schnellzug zerfetzen und am Ende kracht der Zug auch noch samt Insassen in den Abgrund. Doch das war nur zum Aufwärmen, denn Nemesis hat in den USA noch größeres vor: Er kidnappt den Präsidenten und erklärt dem Polizeichef von Washington D.C., Blake Morrow, dass er bald sterben werde. Nemesis will sich rächen, dass Morrow ihm einst seine Eltern genommen hat – die ebenfalls schon ein Faible für sinnloses Morden von Unschuldigen hatten.

Wie immer, ist das, was Millar auffährt, ohne Grenzen. Er kennt als Autor keine Hemmungen, was Gewalt und Moral angeht. Und so ist auch Nemesis ein einziges Gemetzel, allerdings so hyperrealistisch von Steve McNiven gezeichnet, dass man nur schwer wegsehen kann. Die Stimmung wird immer paranoider und klaustrophobischer, man fühlt sich zuweilen an den Joker aus Nolans The Dark Knight-Film erinnert, der Batman immer zwei Schritte voraus ist. Nemesis ist seinen Gegnern mindestens drei Schritte voraus – und das macht diesen Schurken so frustrierend. Das Schlimmste jedoch, das weiß Millar sehr gut, passiert ihn den Köpfen seiner Leser – deshalb reicht es auch, dass er für seine furchtbarste Fantasie, das was mit Morrows Kindern passiert, mit Bildern verschont. Das war ein so schockierender Moment für mich, dass ich das Heft für einen Moment weglegen musste, bevor ich weiterlesen konnte.

Aber wie immer geht Millar den Weg des Allerschlimmsten nur, um ein versöhnliches Ende für seinen Helden zu finden. Der Karrieretyp, der seine Familie vernachlässigt hat, lernt seine Scrooge-Lektion. Und trotzdem bleibt nach all dem Massenmord und Leid ein sehr bitterer Nachgeschmack zurück. Die Pointe, die Millar findet, ist eine höchst zynische. Der größte Schurke ist nicht Nemesis, sondern die Organisation, die ihn möglich gemacht hat. Die Erkenntnis lautet: Wer reich ist, kann sich alles leisten. Wirklich alles. Und jeden. Und das hat dann wiederum so sehr mit unserer echten Welt zu tun, dass man auch ganz ohne reale Superschurken Angst bekommen kann.

>> Mark Millar/Steve McNiven: Nemesis, Marvel 2012.

Frank Schmolke: Nachts im Paradies

schmolke nachts im paradies

edition moderne

Taxifahrer haben es schwer. Nicht nur, seit Uber ihnen Kokurrenz macht und sie wahrscheinlich bald von selbstfahrenden Autos abgelöst werden. Spätestens seit Martin Scorseses „Taxi Driver“ wissen wir auch, warum der Antiheld in dem Film kein allzu gutes Menschenbild hat. Der Held in Frank Schmolkes Comic Nachts im Paradies wird zwar nicht zum selbsternannten Rächer, aber auch er hätte allen Grund dazu.

Wir sind nicht in New York unterwegs und nicht mal in einer deutschen Stadt, die als hartes Pflaster bekannt wäre: Es ist München. Aber zum Oktoberfest wirkt sie vom Taxi aus gesehen wie die schlimmste Stadt der Welt. Schon das überbordende Cover deutet an, was uns erwartet: Betrunkene, die sich fast ums Taxi prügeln, überall liegt der Dreck auf der Straße, dazwischen die Schnapsleichen und jene, die nur noch auf allen Vieren laufen können.

Bei Vincent steigt eine Besoffene ein, die nicht mal mehr stehen kann. Kaum abgesetzt, wird sie fast von zwei Männern vergewaltigt. Vincent muss sie vertreiben und die Frau in ihre Wohnung bringen. Er könnte die Situation selbst ausnutzen, als er sie da mit gespreizten Beinen auf dem Bett liegen sieht, aber Vincent ist einer von den Guten. Und er muss viel ertragen. Ihm platzt aber erst der Kragen, als ein Pärchen Oralverkehr auf dem Rücksitz hat und die Frau ihm das Auto vollkotzt. Vincent schmeißt sie raus, will sie zur Verantwortung ziehen, doch dann wird er von dem Lederhosenträger ausgeknockt – und auch noch um sein Geld bestohlen.

Das ist nur der Anfang einer Irrfahrt durch die Postapokalypse der Bierzombies, die die Stadt unsicher machen. Vincent muss in einem stinkenden Auto Geld verdienen, um über die Runden zu kommen. Er bekommt einen dubiosen Auftrag von einem Zuhälter und dann gerät auch noch seine Tochter Anna an den Falschen, lässt sich Drogen ins Bier kippen und wird fast vergewaltigt.

Auf 350 Seiten breitet Frank Schmolke, der aus jahrelanger Erfahrung erzählt, menschliche Abgründe in schwarz-weiß aus. München während des Oktoberfests ist hier kein Ort, an dem man auch abseits des Taxis sein möchte. Jeglicher menschlicher Anstand scheint vergessen, schnell ist die Grenze zum Verbrechen überschritten. Schwarzweiß erscheint auch die Gesellschaft: Männer selten Gutes im Sinn, Frauen sind Opfer, die ausgenutzt werden, die beschützt und gerettet werden müssen, aber immerhin ist Vincents Tochter auch eine starke Persönlichkeit, die sich nicht alles gefallen lässt.

Schmolke inszeniert seine Geschichte aber so lebensnah, schonungslos und packend, dass man atemlos die Seiten umblättert. Mit geschwungenem Strich und Noir-Optik erzeugt er eine ständige Unruhe, bei der man ständig das Schlimmste fürchtet. In diesem Taxi, in dieser Stadt im Ausnahmezustand kann alles passieren. Und man ist froh, wenn sich doch ein paar Vernünftige finden, die sich noch fragen, in was für einer Welt sie leben.

Nachts im Paradies ist ohne Übertreibung ein beachtliches Meisterwerk – und eines der besten deutschen Comics der vergangenen Jahre. Nach der Lektüre wird man bestimmt, wie Schmolke es empfiehlt, dem nächsten Taxifahrer gutes Trinkgeld geben.

>> Frank Schmolke: Nachts im Paradies, Edition Moderne 2019.

Steffen Kverneland: Ein Freitod

Avant-Verlag

Als die Söhne erwachsen sind, nimmt sich der Vater das Leben. Abgasvergiftung im Auto. Ohne ersichtlichen Grund. Aber als hätte er darauf gewartet, dass seine Söhne alt genug sind, um den Verlust zu verkraften. Wie konnte es dazu kommen? Dieser Frage geht der Sohn, Steffen Kverneland, in seinem Comic Ein Freitod nach.

Mit einer Kombination aus Zeichnungen und Familienfotos begibt sich der norwegische Künstler auf Spurensuche: Wo hat es Vorzeichen gegeben? Nach und nach ergibt sich ein Gesamtbild: Der Vater hatte eine lieblose Kindheit, ein schwieriges Verhältnis zu den Eltern, der Vater wollte ihn nicht studieren lassen, man sollte eine Arbeiterfamilie bleiben. Trotzdem wurde er Ingenieur und hatte sogar Erfolg als Erfinder. Immer wieder plagten ihn Depressionen, nahm Medikamente und begab sich in eine Klinik. Die Kinder bekamen davon nicht viel mit, außer dass er heimlich trank.

Kverneland zeichnet ein widersprüchliches Bild seines Vaters: Einerseits ein Verehrer afroamerikanischer Künstler, von Duke Ellington bis Sidney Poitier, andererseits um keinen rassistischen oder homophoben Spruch verlegen. Ein Mann der Extreme, der Menschen entweder fantastisch fand oder sie verachtete – und von sich stets viel abverlangte.

Der Autor tastet sich auch über seine persönliche Beziehung zu seinem Vater an diesen komplexen Charakter heran. Er legt offen, inwiefern der Vater ihn – etwa in seiner Sprache – bis heute prägt. Das ist auch eine sehr persönliche Selbst- und Familienanalyse, aber bleibt formal eher konventionell und zum Teil auch unstimmig. Zwar sind seine gemalten Panels eindrucksvoll düster, gerade wenn Kverneland Schauplätze des Geschehens zeigt, aber seine teilweise cartoonhaft gezeichneten Charaktere brechen mit dem visuellen Stil genauso wie die vielen Foto-Einschübe.

Inhaltlich erinnert Ein Freitod sehr an Alison Bechdels Fun Home, in der die Autorin ebenfalls zu rekonstruieren versucht, warum (oder ob) sich ihr Vater das Leben genommen hat, aber es reicht an Komplexität und Erzählkunst bei weitem nicht an Bechdels modernen Klassiker heran.

>> Steffen Kverneland: Ein Freitod, avant-verlag 2019.

Mark Millar: Prodigy

Prodigy (Cover)

Image Comics

Edison Crane ist ein wahres Wunderkind. Er ist nicht nur ein hervorragender Polospieler. Als er von seinen Mitschülern aus Neid verdroschen wird, revanchiert er sich, indem er übers Wochenende mehrere Kampfsportarten lernt – und zwar nur durchs Fernsehen. Später operiert er ein Kind am offenen Herzen. Als Erwachsener entwickelt er eine Rakete, um einen Asteroiden von der Erde abzuwehren – und das während er acht Schachpartien gleichzeitig spielt. Und zum Zeitvertreib führt er die waghalsigsten Stunts durch, die sich Kinder ausdenken. Klar, dass er die erste Wahl ist, wenn es darum geht, die Welt zu retten.

Mark Millar (The Magic Order) beweist mit Prodigy mal wieder, dass er selbst noch ein Kind geblieben ist – und ein Wunderkind obendrein. Seine Fantasie ist nahezu unerschöpflich und er ist auch ein Meister der Übertreibung. Sein Edison Crane entspricht des naiven Wunschtraums eines Alleskönners, der jede noch so brenzlige Situation meistert, er ist James Bond, Ethan Hunt, Indiana Jones und McGyver in einem. Aber die Coolness, mit der er das erledigt, lässt auch einen makellosen Überflieger wie ihn sympathisch erscheinen.

Wir sehen, wie der Held mit einer CIA-Agentin um die Welt reist, um einen Plan zusammenzustückeln, den böse, empathiefreie Menschen von einer kaputten Parallelwelt schmieden, um über unsere Erde herzufallen. Crane klappert so ziemlich alle archäologischen Stätten ab, kämpft gegen Haie und die Terrormiliz „Islamischer Staat“ und räumt nebenbei noch Millionen beim Pokern ab. Es ist ein Heidenspaß, ihm dabei zuzusehen, auch weil Rafael Albuquerque (Huck, Ei8ht) mit seinen dynamischen und ausdrucksstarken Zeichnungen die Rasanz der Story noch steigern. Die knalligen Farben von Marcelo Maiolo machen jede Seite zum Hingucker.

Dass Millar keine Skrupel vor Tabus hat, zeigt er in einer Sequenz, in der die Schurken eine sadistische Jagd auf Kinder machen. Seiten wie diese bringen eine Drastik in die Geschichte, die den sonst unbeschwerten Stil radikal brechen. Ein typischer Millar eben. Auch wenn das Ende für ihn typisch und damit formelhaft anmutet (der Held ist dem Schurken um mehrere Schritte voraus), ist Prodigy doch smart genug, um in der langen Reihe von Millarworld-Titeln zu bestehen. Man darf sich darauf freuen, was Netflix aus dem Stoff machen wird.

>> Mark Millar/Rafael Albuquerque: Prodigy – The Evil Earth, Image 2019.

McCay: Eine verpasste Chance

McCay

Carlsen Comics

Wenn Comics als „Graphic Novels“ erscheinen, dann adaptieren sie entweder Biografien oder Literatur. Und am besten Biografien von Literaten: Dann sieht man James Joyce, Sartre oder Anne Frank als Comichelden, mit mal mehr, mal weniger Erfolg. Aber die großen Namen ziehen eben Leser an.

Im Fall von Winsor McCay, den Schöpfer des revolutionären Zeitungscomics Little Nemo in Slumberland, scheint sich eine Comicbiografie geradezu aufzudrängen. Allerdings eignet sich nicht jede Biografie dazu, auch als Comic erzählt zu werden. Denn nur weil jemand etwas außerordentlich geleistet hat, heißt es nicht, dass er auch ein aufregendes Leben hatte oder sich dieses bildstark zeigen lässt.

So auch bei McCay. Das hat den Autor Thierry Smolderen und den Künstler Jean-Philippe Bramanti trotzdem nicht davon abzuhalten, 200 Seiten mit Bild und Text über den Pionier zu füllen. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, haben sie seine Lebensgeschichte mit so etwas wie einer Handlung aufgemotzt. Es geht um eine Reihe übernatürlicher Morde, die ein gewisser Silas, ein Gefährte aus Zirkuszeiten und Namensgeber für McCays Pseudonym, aus einem Ort heraus begeht: der vierten Dimension. Er hat es auf den Großverleger William Randolph Hearst abgesehen.

Die Handlung wird in sehr kunstvoll gemalten Panels mit beschränkter Farbpalette und Noir-Ästhetik in eine düstere Stimmung versetzt. Das ändert aber nichts daran, dass die meiste Zeit nur geredet wird. Viel Pseudowissenschaftliches und Spekulatives über diese ominöse „vierte Dimension“, die der Held in psychdelischen Panels zu betreten lernt, um den Schurken zu besiegen. Interessant ist das nicht. Es ermüdet.

Die Story springt dann auch noch so sehr in der Zeit, Monate und Jahre vergehen, dass selten echte Spannung aufkommt. Auch eine Liebesaffäre oder Gastauftritte von Houdini und anderen Zeitgenossen können nicht über die faden Dialoge und des forcierten Mystery/Science-Fiction-Plots hinwegtrösten. Auch Little Nemo hat nicht mehr als ein paar kleine Cameo-Auftritte. Um den Zeichner und Animator McCay geht es hier eigentlich nicht. Es ist kein Buch für Neugierige, die etwas über ihn erfahren wollen, sondern über Verehrer, die gut Bescheid wissen. Und darin besteht die große Enttäuschung eines Buches, das „McCay“ heißt.

Bei dem Ausmaß dieser Fiktionalisierung kann man sich fragen, warum man überhaupt eine historische Figur gewählt hat, um diese Geschichte zu erzählen. Wahrscheinlich weil sie sonst nicht erzählenswert wäre. „McCay“ soll eine Hommage sein und ein bemühter Versuch, mit künstlerischer Ambition, dem großen Vorbild an Kühnheit gerecht zu werden. Daran scheitert Smolderen, indem er als Erzähler nicht einmal Bramantis visueller Qualität gerecht wird. „McCay“ fehlt es am Visionären eines „Little Nemo“. Eine verschwendete Chance – falls es denn überhaupt eine war.

>> Thierry Smolderen/Jean-Philippe Bramanti: McCay, Carlsen 2019.