
X-Men: Alt und neu (20th Century Fox)
Superman, Spider-Man, X-Men, Fantastic Four – die vierte Strömung des Superheldenkinos gehört den Reboots.
Was tut man, wenn eine Geschichte zu Ende erzählt wurde? Man fängt wieder von vorn an. Elf Jahre nach dem ambitionierten Start von X-Men war man soweit. Zu der Trilogie gab es zunächst ein uninspiriertes Prequel zu Wolverine, schließlich erzählte man auch die Vorgeschichte der Hassliebe zwischen den Antipoden Charles Xavier (Professor X) und Eric Landsherr (Magneto). X-Men: Erste Entscheidung (2011, First Class) war ein frischer Neubeginn: kurzweilig, unterhaltsam und mit einer guten Portion 60er-Zeitgeist. Ein vernachlässigter Charakter wie Raven kam endlich zu ihrem Recht, aber wie schon zuvor war die spannungsreiche Freundschaft zwischen Charles und Eric der rote Faden, der die Story zusammenhielt: der impulsive Rächer an den Nazis gegen den besonnenen Denker und Versöhner. Mit der Fortsetzung, Zukunft ist Vergangenheit (2014, Days of Future Past) kehrte Regisseur Bryan Singer zurück und verschränkte die Zeitebenen der ersten Trilogie mit der Prequel-Reihe, als Bindeglied diente Wolverine, der in seinem Körper der 70er Jahre Schlimmeres verhindern musste. Damit fand die X-Men-Reihe zu ihrer alten Stärke und Brisanz zurück.
Auch Spider-Man bekam ein Reboot – und zwar kein weiches wie die X-Men, sondern einen totalen Neustart. Gerade einmal zehn Jahre nachdem Sam Raimi mit dem ersten Spider-Man-Film Pionierarbeit geleistet hat, wurde mit The Amazing Spider-Man (2012) die Entstehungsgeeschichte wieder erzählt. Die Tatsache, dass die erste Trilogie noch nicht lange her und noch in guter Erinnerung war, sorgte für einen Déjà-vu-Effekt, der die Existenzberechtigung des Films infrage stellte. Zu vieles hatte man fast genauso schon einmal gesehen. Es werden bloß zwei neue Akzente gesetzt: Peters Liebesleben beginnt – wie in den Comics – mit Gwen Stacy und erstmals spielt auch der Tod von Peters Eltern eine Rolle. Doch die Aufdeckung des dahinter stehenden Mysteriums, das die Rahmenhandlung für eine neue Filmreihe bilden sollte, hat sich erübrigt: Nach einem schwachen, geradezu lächerlichen zweiten Teil (Rise of Electro) wurde der Amazing Spider-Man seinem Namen nicht gerecht und damit eingestellt. Erst in diesem Jahr hat Rechteinhaber Sony zugestimmt, dass der beliebteste Marvel-Held in das Cinematic Universe integriert werden soll. Mit neuer Besetzung wird Spider-Man bereits in Captain America: Civil War vorkommen, danach soll ein Solo-Film folgen. Doch auch wenn Marvel aus den Fehlern gelernt hat und keinen Origin mehr erzählen will, wird die Geschichte wieder im High School-Milieu spielen, Peter wird wieder ein Teenager sein. Es wird nicht leicht sein, dieses verfahrene Franchise wieder auf Kurs zu bringen.
Im gleichen Jahr wie The Amazing Spider-Man versuchte sich auch Warner erneut an der Galionsfigur von DC Comics: Superman. Eine ohnehin schwierige Figur, weil sich schon längst die Frage stellt, ob ein perfekter, unverwundbarer Alleskönner in Primärfarben-Pyjamas noch zeitgemäß ist. Die TV-Serie Smallville bewies, dass es möglich war, wenigstens die Jugend des Helden über zehn Staffeln zu erzählen. Im Jahr 2006 passierte aber etwas sehr Befremdliches: Bryan Singer verließ die X-Men, um einen Superman-Film zu drehen, der an Superman II mit Christopher Reeve anschloss – also die Fortsetzung eines 26 Jahre alten Films, der bereits zwei schlechte Fortsetzungen hatte. Statt also von den Errungenschaften von Batman Begins zu lernen, versuchte Singer sich mit Superman Returns in Nostalgie. Er scheiterte total. Die Geschichte von Supermans Sohn mit Lois Lane war die weichgespülte Familienvariante des Mannes aus Stahl. Der Film war so lahm, dass man ihm keine Fortsetzung gönnte (obwohl die Kritiken in den USA überwiegend positiv waren und zunächst ein Sequel angekündigt war). Man hatte eingesehen, dass dieser Ansatz nicht funktionierte.
Sechs Jahre später kam also das radikale Reboot Man of Steel von Zack Snyder. Der Mann, der sich an den Watchmen versucht hatte, fing mit Superman noch einmal von vorn an – unter dem Einfluss von Christopher Nolan. Doch was sich nach einem Qualitätsgaranten anhört, wurde zum Problem: Man of Steel orientiert sich in Stil und Aufbau zu sehr an Batman Begins und The Dark Knight, sodass wir statt satter Primärfarben einen dunkelgrauen Superman sehen, der in einen grauen Himmel fliegt. Das entspricht der übrigen Stimmung des Films. Zu lachen gibt es so gut wie nichts. Zu düster ist die Geschichte, aber sie lässt einen emotional unbeeindruckt. Größter Tiefpunkt ist die überzogene Zerstörungsorgie im Finale, bei der halb Metropolis zerlegt wird. So viel fehlendes Verantwortungsbewusstsein ist nicht gerade, was man sich von einem erhabenen Helden wie Superman verspricht. Der Film pulverisiert sich selbst und lässt nichts zurück als Trümmer.
Aber wenn man sich den Trailer zum Sequel, Batman v Superman, ansieht, stellt man fest, dass eine gealterte Version von Bruce Wayne das auch so sieht und deshalb wieder ins längst abgelegte Batman-Kostüm (oder eher in eine Rüstung) steigt, um den selbstherrlichen Kryptonier auszuschalten. Die Nähe zu den Comics (allen voran The Dark Knight Returns) ist offensichtlich, auch die Kritik am Farbkonzept scheint Regisseur Snyder berücksichtigt zu haben. Alle Hoffnung – auch von Warner – ruht auf diesem Film. Denn er muss das Unmögliche leisten: Nicht nur einen glaubhaften Kampf der Titanen inszenieren, sondern auch den zwiespältig aufgenommenen Man of Steel wiedergutmachen und Batman neu einführen. Zugleich soll der Film auch der Beginn der Justice League sein. Wonder Woman wird darin eine Schlüsselrolle bekommen, auch Aquaman und Cyborg sollen darin Auftritte haben. Damit will Warner für das DC-Universum nachholen, was Marvel mit seinem Cinematic Universe seit bereits 2008 aufbaut. Weitere Einzelfilme sollen folgen, von Flash bis Shazam. Auch Green Lantern wird ein Reboot zuteil, nachdem der erste Versuch von 2011 ein belangloses Ergebnis hervorbrachte, von dem man nach dem Sehen nur noch sagen kann, dass es sehr grün zuging. (Ryan Reynolds wird dafür zu Deadpool, ebenfalls ein Figuren-Reboot.) Im kommenden Jahr wird in dem Schurkenfilm Suicide Squad auch ein neuer Joker (Jared Leto) eingeführt – er tritt in große Fußstapfen, die Heath Ledger hinterlassen hat.
Zuletzt bekam auch Marvels Fantastic Four (2015) einen Reboot – zehn Jahre nach dem jüngsten. Der war bitter nötig, wenn man bedenkt, dass einst mit dem Superheldenteam Marvels Silver Age begann und schon zwei schwache Verfilmungen gescheitert waren, dem Stoff gerecht zu werden (ganz zu schweigen von dem Billigfilm von 1994, der zwar gedreht, aber nie veröffentlicht wurde). Nach diesen Fehlschlägen konnte es nur noch besser werden. Und es sah zunächst so vielversprechend aus: Eine talentierte, junge Besetzung, einen neuen Ansatz und Regisseur Josh Trank, der zuvor mit Chronicle einen beachtlichen Film über alternative Superhelden ohne Kostüme gedreht hatte. Doch das Ergebnis war eine Katastrophe, für die sich hinterher alle Beteiligten schämten und das Publikum fassungslos zurückließ, fassungslos gelangweilt und verärgert. Mit gerade einmal zehn Prozent positiver Besprechungen bei Rotten Tomatoes und einer IMDb-Wertung von 4,3 unterbot das Reboot sogar noch seine mäßigen Vorgänger. Wer auch immer an dem Desaster Schuld hat: Das Franchise ist für lange Zeit ruiniert.
Der Reiz des Reboots, des Neuanfangs, besteht im Reiz des Anfangs. Oftmals sind es die Entstehungsgeschichten, die sogenannten Origins der Helden, die im kulturellen Gedächtnis hängenbleiben: Der Elternmord bei Batman, der Spinnenbiss bei Spider-Man, die Zerstörung Kryptons bei Superman. Unfälle, Katastrophen und Traumata bestimmen den Gründungsmythos – und davon zehren die Figuren. Die Menschen erkennen sie darin nicht nur wieder, sondern identifizieren sich auch immer wieder neu mit ihnen. Doch Superheldenstoffe sind seriell angelegt, sie gehen immer weiter. Das stellt die Autoren und Regisseure vor das Problem, dass sie sich immer weiter von der Urszene, die die Helden als Charaktere interessant macht, entfernen. Daher müssen sie immer wieder an den Ursprung erinnern – oder ihn einfach neu erzählen. Der Neubeginn ist verführerisch, doch die Beispiele der vergangenen Jahre zeigen, dass es keinen Erfolgsgaranten gibt, wenn man dieser Versuchung nachgibt.
Die Zyklen der Wiederverwertung werden kürzer. Aber die Erinnerung der Zuschauer wird es nicht. Daher wird es nicht reichen, ihnen immer wieder dasselbe vorzusetzen und sich nur nach der Logik „mehr ist besser“ zu steigern. Noch ist die Nachfrage des Publikums nach Superheldenfilmen ungebrochen. Nach wie vor haben Marvels Filme großen Erfolg, allein die beiden Avengers-Teile haben jeweils über eine Milliarde Dollar weltweit eingespielt. Allerdings besteht die Gefahr, dass bei der Flut an Superheldenfilmen das Interesse an dem Genre bald wieder abflauen könnte. Allein für 2016 sind sieben Filme über Marvel- und DC-Charaktere angekündigt: Batman v Superman, Suicide Squad, X-Men: Apocalypse, Deadpool, Gambit, Captain America: Civil War und Doctor Strange. Nicht einmal alle zwei Monate ein neuer Film. Zudem werden die Geschichten komplexer: Marvels Cinematic Universe ist jetzt schon für Quereinsteiger schwer nachzuvollziehen. Das Publikum wird immer stärker gefordert. Interessant, so etwas ausgerechnet über ein Genre zu sagen, das dem ersten Anschein nach leichte Unterhaltung sein soll. Solange die Macher nicht hinter die Erkenntnis zurückfallen, welches Potenzial in ihren Geschichten steckt, kann man sich noch viele weitere Leinwandspektakel freuen. Die Blüte der Superhelden im Kino scheint noch lange nicht vorbei zu sein.