graphic novel

Jeff Lemire: Frogcatchers

frogcatchers cover

Simon & Shuster

Ein Mann wacht in einem Hotel mit Meerblick auf. Er weiß anscheinend nicht, wie er da hingekommen ist. Er findet einen Schlüssel für das Zimmer 309, an der Tür ist ein Frosch angenagelt. Ein Junge führt ihn in den Keller, dort sollen sie sich vor dem Frog King verstecken. Er warnt den Mann vor dem Zimmer 309, weil dort die schlimmsten Ängste wahr werden können. Dann tauchen plötzlich zwei Froschmenschen auf, sie fliehen ins Zimmer 309 und finden einen alten kranken Mann in einem Krankenhausbett …

Unter all den Comics wie Black Hammer, Gideon Falls und Descender/Ascender findet Jeff Lemire noch Zeit für kleine, persönliche Projekte, die er selbst zeichnet. Mit Frogcatchers knüpft er zum einen an seinen Mystery-Comic The Underwater Welder (dt. Der Unterwasserschweißer) an und zugleich an seine Lieblingsthematik: die eigene Vergänglichkeit im Tod.

Lemire findet dafür eine sehr raue Bildsprache: Seine Striche wirken unruhig und skizzenhaft, die surrealen Sequenzen scheinen mehr ein Entwurf als ein fertiges Werk zu sein. Lemire verlässt sich mehr auf seine Bilder als auf die Sprache, er braucht lange, um jemanden sprechen zu lassen und auch dann wird nur das Nötigste geredet.

Die Story handelt nicht von Charakteren. Sie spielt sich auf einer symbolischen Ebene ab und wirkt damit eher wie eine Parabel mit universaler Gültigkeit. Die Frösche werden zum Sinnbild fürs Leben, das man nur einfängt, um es wieder loszulassen. Die Erinnerung an das jüngere Ich wird zum Sterbebegleiter. Das ist sentimental, an der Grenze zum Banalen.

Frogcatchers ist ein Comic, das man zu schnell liest, als dass etwas davon hängen bleiben könnte. Einerseits wünscht man sich mehr, andererseits wirken Träume oder Nahtoderlebnisse auf Dauer auch zu ermüdend, um ein ganzes Buch damit zu füllen. So ist Frogcatchers nur ein Nebenwerk von Lemire, das man einmal als Paperback lesen kann.

George Orwell als Comic-Biografie

George Orwell (Graphic Novel)

Knesebeck Verlag

Man könne George Orwells Geschichte auf mehrere Weisen beginnen, heißt es zu Beginn des Comics. Die Möglichkeiten werden angedeutet. Aber stattdessen nehmen Pierre Christin und Sébastien Verdier den einfachsten Weg, um diese Geschichte zu erzählen – es ist der denkbar langweiligste.

Autor und Zeichner erzählen in chronologischer Reihenfolge den Werdegang von Eric Blair, wie Orwell bürgerlich hieß, nach. Von der Schule, über das Elite-College Eton, über den Militärdienst in Burma, die Straßen von Paris, den Spanischen Bürgerkrieg bis zur Karriere als Schriftsteller.

Hier werden lauter Lebensstationen abgehakt, mit Anekdoten angereichert, jedoch ohne dabei den interessanten Menschen zu erklären. Viel zu selten lassen sie ihn zu Wort kommen, etwa um verständlich zu machen, warum er zeitweilig ein Leben am Rand der Gesellschaft führte. Die Tatsache, dass er ein Nonkoformist war, hilft da nicht weiter. Und so sehen wir Orwell mehr als Heimgärtner und Tierzüchter, weniger als Autor in Aktion.

Auf Orwells Werke lassen Christin und Verdier andere Künstler eingehen. Jeweils eine Doppelseite bekommen die kurzen Auszüge aus den Büchern, die meist nur mit einem großen Bild illustriert werden (zum Beispiel von Manu Larcenet). Im Nachwort erklären die Autoren zwar, dass sie die Leser nicht mit seelenleeren Exzerpten abspeisen wollten, aber so erfährt man eben nur wenig über die Bücher, gerade die abseits von Farm der Tiere und 1984.

Sébastien Verdier ist ein sehr naturalistischer, detailversessener Künstler, der jeden einzelnen Backstein zeichnet. Sein präziser Stil lässt jedoch diesen Comic nur allzu brav erscheinen. Die deutsche Ausgabe trübt zudem die Lektüre mit generischem Lettering und inkosequent übersetzten Stellen. Am Ende bleibt das unbefriedigende Gefühl zurück, dass man die Zeit, die man ins Lesen dieser 150 Seiten investiert hat, hätte besser nutzen können.

Leider ist diese Fantasielosigkeit ein Rezept allzu vieler Comic-Biografien.

>> Pierre Christin/Sébastien Verdier: George Orwell, Knesebeck Verlag 2019.

Frank Schmolke: Nachts im Paradies

schmolke nachts im paradies

edition moderne

Taxifahrer haben es schwer. Nicht nur, seit Uber ihnen Kokurrenz macht und sie wahrscheinlich bald von selbstfahrenden Autos abgelöst werden. Spätestens seit Martin Scorseses „Taxi Driver“ wissen wir auch, warum der Antiheld in dem Film kein allzu gutes Menschenbild hat. Der Held in Frank Schmolkes Comic Nachts im Paradies wird zwar nicht zum selbsternannten Rächer, aber auch er hätte allen Grund dazu.

Wir sind nicht in New York unterwegs und nicht mal in einer deutschen Stadt, die als hartes Pflaster bekannt wäre: Es ist München. Aber zum Oktoberfest wirkt sie vom Taxi aus gesehen wie die schlimmste Stadt der Welt. Schon das überbordende Cover deutet an, was uns erwartet: Betrunkene, die sich fast ums Taxi prügeln, überall liegt der Dreck auf der Straße, dazwischen die Schnapsleichen und jene, die nur noch auf allen Vieren laufen können.

Bei Vincent steigt eine Besoffene ein, die nicht mal mehr stehen kann. Kaum abgesetzt, wird sie fast von zwei Männern vergewaltigt. Vincent muss sie vertreiben und die Frau in ihre Wohnung bringen. Er könnte die Situation selbst ausnutzen, als er sie da mit gespreizten Beinen auf dem Bett liegen sieht, aber Vincent ist einer von den Guten. Und er muss viel ertragen. Ihm platzt aber erst der Kragen, als ein Pärchen Oralverkehr auf dem Rücksitz hat und die Frau ihm das Auto vollkotzt. Vincent schmeißt sie raus, will sie zur Verantwortung ziehen, doch dann wird er von dem Lederhosenträger ausgeknockt – und auch noch um sein Geld bestohlen.

Das ist nur der Anfang einer Irrfahrt durch die Postapokalypse der Bierzombies, die die Stadt unsicher machen. Vincent muss in einem stinkenden Auto Geld verdienen, um über die Runden zu kommen. Er bekommt einen dubiosen Auftrag von einem Zuhälter und dann gerät auch noch seine Tochter Anna an den Falschen, lässt sich Drogen ins Bier kippen und wird fast vergewaltigt.

Auf 350 Seiten breitet Frank Schmolke, der aus jahrelanger Erfahrung erzählt, menschliche Abgründe in schwarz-weiß aus. München während des Oktoberfests ist hier kein Ort, an dem man auch abseits des Taxis sein möchte. Jeglicher menschlicher Anstand scheint vergessen, schnell ist die Grenze zum Verbrechen überschritten. Schwarzweiß erscheint auch die Gesellschaft: Männer selten Gutes im Sinn, Frauen sind Opfer, die ausgenutzt werden, die beschützt und gerettet werden müssen, aber immerhin ist Vincents Tochter auch eine starke Persönlichkeit, die sich nicht alles gefallen lässt.

Schmolke inszeniert seine Geschichte aber so lebensnah, schonungslos und packend, dass man atemlos die Seiten umblättert. Mit geschwungenem Strich und Noir-Optik erzeugt er eine ständige Unruhe, bei der man ständig das Schlimmste fürchtet. In diesem Taxi, in dieser Stadt im Ausnahmezustand kann alles passieren. Und man ist froh, wenn sich doch ein paar Vernünftige finden, die sich noch fragen, in was für einer Welt sie leben.

Nachts im Paradies ist ohne Übertreibung ein beachtliches Meisterwerk – und eines der besten deutschen Comics der vergangenen Jahre. Nach der Lektüre wird man bestimmt, wie Schmolke es empfiehlt, dem nächsten Taxifahrer gutes Trinkgeld geben.

>> Frank Schmolke: Nachts im Paradies, Edition Moderne 2019.

Vagina ist nicht gleich Vulva

Avant-Verlag

Wenn ich eine Kritik zu einem Comic schreiben soll, der sich mit dem weiblichen Geschlechtsorgan beschäftigt, komme ich mir vor wie im ersten Aufklärungsunterricht. Ich weiß nicht, wie ich es angehen soll, irgendwie fühlt es sich seltsam an, obwohl es normal sein sollte. Wie soll man das angehen? Denn auch wenn der Aufklärungsunterricht schon lange her ist und das Leben um einige Erfahrungen reicher: Das ist ein Thema, über das man nicht spricht. Nicht damals, nicht heute. Man kann über Sex reden, aber nicht über DAS. Schon allein, dass man dafür kein anständiges Wort hat, das sich nicht zu wissenschaftlich oder zu vulgär oder verniedlichend anhört – ein Dilemma. Es kommt noch hinzu, dass es noch schwieriger ist, als Mann darüber zu sprechen; als stünde es einem nicht zu.

Warum ist das so? Warum tut sich unsere Gesellschaft so schwer damit? Woher diese Hilflosigkeit, diese Ängste? Wie gut, dass Liv Strömquist das in ihrem Buch Der Ursprung der Welt erklärt. Als Comic. Mit Text und Bildern. Danke dafür. Das war überfällig. Und die schwedische Autorin erklärt es so einfach und anschaulich, dass man es nicht nur versteht, sondern auch wunderbar darüber lachen kann. Man merkt beim Lesen, wie sich der innere Krampf löst. Und Erkenntnis einsetzt.

Der Blick ist feministisch: Strömquist stellt dar, dass die Kultur mal wieder an allem Schuld ist. Es ist kein Problem, über männliche Geschlechtsorgane zu sprechen, aber beim weiblichen Pendant herrscht immer noch sehr viel Ignoranz. Mehr Gerüchte und Hörensagen als fundierte Kenntnisse. Erst 1998 hat die Wissenschaft überhaupt verstanden, was die Klitoris ist und wie weit sie reicht. Und trotzdem sprechen wir immer noch von G-Punkten, klitoralen und vaginalen Orgasmen – ein Mythos. Das war nicht immer so: Schon in der Steinzeit, später auch in der Antike, wurden Vulvas noch ganz selbstverständlich dargestellt. Die Wahrnehmung von Frauenkörpern änderte sich: Galten Frauenkörper früher noch als unterlegene Männerkörper, wurden sie später zu Gegensätzen stilisiert. Die Vulva wurde zur Scheide, während der Mann demnach ein passendes „Schwert“ zwischen den Beinen trug. Für Sartre war die Vulva nur ein Loch, ein Nichts, das gefüllt werden sollte – kaum zu glauben, dass er mit einer Feministin wie Simone de Beauvoir zusammen war. Das Geschlechtsorgan der Frau galt lange nicht als eigenständiges Organ. (Was viel über den Status von Frauen aussagt.)

Aber Sartre war weder der erste noch der Letzte, der es so gesehen hat. Die Metapher des Gegenstücks zum Mann hält sich hartnäckig. Und das Wissen um weibliche Anatomie nahm ab. Während Hebammenratgeber im 17. Jahrhundert noch davon ausgingen, dass weibliche Orgasmen wichtig waren (für die Befruchtung), kamen im 19. Jahrhundert Pseudo-Wissenschaftler, die meinten, aus Theorien erfinden zu können, die Frauen sämtliches Lustempfinden absprachen. Die Vulva wurde verstümmelt, um alle möglichen angeblichen Leiden zu bekämpfen. Leider wird sie es immer noch: durch „Beschneidungen“ und Schamlippenverkleinerung. Das Geschlechtsorgan der Frau soll verschwinden – sich in das Nichts auflösen, für das es gehalten wird. Besonders deutlich wird das in einem Kapitel über langes Kapitel Menstruation. Hier stellt sie dar, wie aus etwas, das die frühen Menschen ursprünglich für ein Heiligtum hielten, ein Tabu gemacht wurde. Heute werben Tamponhersteller damit, dass ihre Produkte so klein sind, um nicht bemerkt zu werden, wenn die Frau sie in die Hand nimmt …

Strömquist erteilt ihren Lesern eine komprimierte Nachhilfestunde, in der sie mit Vorurteilen aufräumt und zeigt, dass dieses Organ eben deutlich mehr ist als eine Abwesenheit. Sie erteilt uns eine wichtige Grundlektion in Anatomie, indem sie klarstellt, dass Vagina (die Öffnung) nicht gleich Vulva (das gesamte Organ) ist und hilft damit, das Geschlechtsorgan besser zu verstehen. Ein Die Belehrung kommt trotz des klaren Appells für mehr Toleranz leichtfüßig daher und lockert selbst die schrecklichsten Episoden der Geschichte mit Ironie auf. Dabei bleibt sie bei aller humoristischer Übertreibung durchaus wissenschaftlich – und stellt damit eine Reihe von Pseudo-Wissenschaftlern bloß, die mit ihren Irrtümern oder unfundierten Annahmen immer noch nachwirken – leider sogar bis in die Schulbücher hinein.

Der Ursprung der Welt ist der Comic, den Schüler statt eines Biologiebuches lesen sollten. Es ist kenntnisreicher, tiefer und wohltuenderweise völlig unverkrampft. Die schlichten Zeichnungen (überwiegend schwarz-weiß) machen es ebenfalls leicht zugänglich. Aber auch für Erwachsene ist es Pflichtlektüre. Nicht nur für Frauen, sondern genauso interessant für Männer. Danach ist man nicht nur schlauer, es lässt sich vor allem viel besser darüber sprechen – falls man mal in die Verlegenheit kommen sollte.

>> Liv Strömquist: Der Ursprung der Welt, Avant-Verlag 2017.

(Ebenfalls empfehlenswert: Der Ursprung der Liebe.)

Warum die Liebe liegenbleibt, wo sie hinfällt

Avant-Verlag

Was für Bücher gilt, gilt auch für Menschen: „You can’t judge a book by the cover.“ Das Cover zum Comic Der Ursprung der Liebe ist eine Herausforderung. Eine kitschige, dilettantisch wirkende Collage, die nach einer lieblos ausgeführten Aufgabe im Kunstunterricht aussieht. Und der Titel verheißt auch nichts Gutes – immerhin wird mal wieder das überanspruchte Wort Liebe bemüht. Noch ein Buch darüber, warum Männer und Frauen nicht zusammenpassen? Noch mehr Verallgemeinerungen und Klischees? Nein, danke!

Ich hätte das Buch nicht einmal angefasst, wenn man es mir nicht empfohlen hätte. Und als ich hineinsah, wollte ich es erst recht wieder weglegen. Die Zeichnungen bestätigten den ersten Eindruck. Doch als ich zu lesen anfing, als ich das Buch erst kennenzulernen begann, da war der erste Eindruck verflogen. Die schwedische Autorin Liv Strömquist hatte mich für sich gewonnen: mit klugen Gedanken und witzigen Einfällen zu der Frage, warum Menschen Beziehungen eingehen, warum die Liebe liegenbleibt, wo sie hinfällt – oder auch nicht. Strömquist zieht geläufige Theorien heran, zitiert Fachliteratur, im Grunde ist es ein Lehrcomic, aber so kurzweilig, dass es sich liest wie eine Sammlung amüsanter Anekdoten.

Die These: Das Problem an Liebesbeziehungen ist ein Machtgefälle. Vielen Männern ist ihre Freiheit und Unabhängigkeit wichtiger als emotionale Bindung, Frauen ergeben sich oft in eine gesellschaftlich vorgegebene Rolle, aber darunter leiden dann beide in Partnerschaften. Strömquist führt verschiedene Erklärungsansätze auf: soziologische, psychologische, historische. Und sie illustriert ihre Theorien mit Beispielen aus der Klatschpresse: den Klassiker Charles und Diana, Whitney Houston und Bobby Brown, Britney Spears und Kevin Federline. Man muss die Fälle weder kennen noch sich dafür interessieren, sie dienen nur als Steigbügel für Phänomene, in denen man ganz normales menschliches Verhalten wiedererkennt – wie zum Beispiel, warum Frauen sich von ihren Partnern abhängig machen und sogar Gewalt erdulden.

Das Beispiel von Victoria Benedictsson, einer schwedischen Autorin des 19. Jahrhunderts, zeigt, dass die Kunst der Pick-up-Artists keine neue Erfindung ist. Sie war vom Literaturkritiker Georg Brandes besessen, obwohl er sie schon bei ihrer ersten Begegnung gedemütigt hatte – eine typische Masche, um Frauen für sich zu gewinnen. Nachdem Brandes ihren Roman ablehnte, brachte sie sich um.

Strömquist beschreibt und erklärt nicht nur all diese Phänomene, sie legt auch die Absurdität offen, die mit Paarbeziehungen einhergeht: Das romantische Ideal, das mit Besitzverhältnissen verbunden ist, die willkürlichen Erwartungen, die wir an Beziehungen stellen. Die Autorin zeigt, ohne sich für eine Möglichkeit entscheiden zu wollen, dass Beziehungen auch anders denkbar wären, dass vom Gefühl der Liebe nicht zwangsläufig abhängt, ob und wie Menschen zusammen sind, ob sie Sex miteinander haben. Alles eine Frage gesellschaftlicher Konventionen – und des eigenen Willens. Nur am Ende lässt Strömquist sich doch zu einem Appell hinreißen, indem sie die US-amerikanische Feministin bell hooks zitiert: „Wo Macht ist, kann es keine Liebe geben. Um Liebe zu empfinden, muss man alle Macht aufgeben.“ Leichter gesagt als getan …

Keine Sorge, liebe Stammtischgemeinde: Das ist kein Buch, das feministische Mission betreibt, „uns Männern“ soll hier nichts weggenommen werden. Man kann diese 130 Seiten als Gedankenanregung lesen, zumindest das eigene Verhalten zu hinterfragen. Denn das Beziehungen scheitern, ist ein Problem, an dem täglich viele scheitern, ohne eine Lösung in Sicht zu haben. Man kann sich auch als Mann in der einen oder anderen Schilderung wiederfinden und vielleicht sogar Schlüsse daraus ziehen, welchen Beitrag zum Gelingen oder Scheitern man selbst leistet. Man kann sich aber auch einfach nur klug unterhalten lassen.

Strömquists Figuren – durchgehend in schwarz-weiß gezeichnet – sind nicht mehr als bessere Strichmännchen, ihre Ästhetik gibt sich naiv-infantil, aber je geringer die Erwartungen an den Stil, desto mehr überrascht sie inhaltlich durch kluge Einsichten und zündende Pointen. Manchmal muss man seine Vorurteile überwinden und Büchern eine Chance geben. Das gilt natürlich auch für Menschen. Dann klappt es vielleicht auch (endlich) mit der Liebe.

>> Liv Strömquist: Der Ursprung der Liebe, Avant-Verlag 2018.

Jeder Tag voller guter Taten

Image Comics

Image Comics

Huck ist ein hünenhafter Jedermann im ländlichen Amerika: er arbeitet bei einer Tankstelle, er ist etwas langsam. Aber er hat ein besonderes Talent: er kann Dinge finden. Und Probleme lösen. Dabei ist er sehr schnell. Er rennt wie der Wind, er springt auf die Dächer fahrender Autos und Züge und erledigt zuverlässig, was er sich vornimmt. Jeder Tag voller guter Taten. Egal, ob er einen Hund oder Entführungsopfer in Nigeria aufspüren soll, den Rasen der Nachbarn mäht oder eine Goldkette aus dem Meer fischt – Huck nutzt sein Talent, um sich nützlich zu machen. Ohne Gegenleistung, in größter Bescheidenheit.

Mark Millar erzählt in Huck eine für seine Begriffe ungewöhnliche Geschichte: es zwar geht wieder um Superhelden, aber die Story kommt ohne die übliche drastische Gewalt aus (wie etwa bei Kick-Ass oder Wanted). Vielmehr führt Millar den Superheldentopos zu seinem Ursprung zurück: Gutes tun. In aller Schlichtheit. Keine Kostüme, kein Schnickschnack. Jeder kann ein Held sein. Dafür braucht es keine Superkräfte, sondern nur eine gute Gesinnung.

Nicht von ungefähr wirkt Huck wie ein blonder Clark Kent, der in Smallville seine Kräfte erprobt, bevor er nach Metropolis geht. Die Stimmung erinnert, auch wegen der warmen, leuchtenden Farben, an die Idylle Superman For All Seasons (Superman für alle Zeiten, 1998) von Jeph Loeb und Tim Sale. Viele Sequenzen kommen ohne Text aus und lassen viel Raum für Figuren und Atmosphäre. Zeichner Rafael Albuquerque verleiht den Figuren eine einzigartige Dynamik und Lebendigkeit. Alles wirkt wie ein harmonisches Ganzes.

Da gerät die Story zur Nebensache. Huck findet heraus, dass er einen Bruder und eine Mutter hat, es läuft auf das Klischee böser Sovjet-Wissenschaftler hinaus, die Super-Soldaten heranzüchten wollen. Der dramatische Höhepunkt vergeht so schnell wie er gekommen ist, das Finale verläuft allzu einfach. Aber wie gesagt: es geht ums Wesentliche. Daher ist ein raffinierter Plot auch nicht nötig. Hier ein paar überraschende Wendungen, aber sonst nichts als tiefe Menschlichkeit, Wärme und Schönheit – ohne langweilig zu sein.

Bei all der Gewalt und Düsternis in Comics ist das eine willkommene Abwechslung. Wenn man sich ansieht, dass DC gerade mit Rebirth eine Kehrtwende zu einem positiveren Superheldenbild vollzieht, könnte Huck ein weiterer Vorbote für ein neues Bedürfnis nach Optimismus in unruhigen Zeiten sein.

Gefangener seiner selbst

Reprodukt

Reprodukt

„I love people!“, sagt der bärtige Mann mit Brille zu Beginn. „I’m a people person!“ Doch kaum begegnet ihm die erste Person und klagt ihm ihr Leid, erwidert er nur: „For the love of Christ, don’t you ever shut up?“ Willkommen in Wilsons Welt. Ein Kerl mittleren Alters, der durch die Straßen geht – meistens seinen Hund dabei ausführt – und über die conditio humana räsonniert. Das tut er nicht in Gedanken-, sondern in Sprechblasen, alle um ihn herum kriegen es mit – ob sie wollen oder nicht. Aber Wilson ist egal, ob sie wollen. Er redet einfach drauflos: ob jemand gerade an seinem Laptop sitzt oder neben ihm im Flugzeug. Wer sich auf ihn einlässt, muss aber damit rechnen, beleidigt zu werden.

Wilson ist ein sehr einsamer und sehr frustrierter Mann. Er hat aus seinem Leben nichts gemacht, aber er wünscht sich, er hätte. Er ist sogar so frustriert, dass er seiner Schwester ein Paket voll Hundescheiße schickt. Sein Vater stirbt, ohne dass Wilson ihn gut gekannt hätte. Trotzdem weint der Sohn über den Verlust bittere Tränen. Dann nimmt er nach Jahren wieder Kontakt zu seiner Ex-Frau auf. Die soll mittlerweile eine Hure sein und ein Kind von ihm haben. Doch die Wiedervereinigung läuft alles andere als idyllisch. Wilson landet im Knast, kommt raus, findet eine Frau – aber kein Glück.

Daniel Clowes (Ghost World) erzählt Wilsons Geschichte auf gerade einmal 70 Seiten. Jede Seite bildet ein Kapitel, das wie ein einzelner Comic-Strip – meistens mit sechs Panels – funktioniert und damit auch jeweils für sich stehen kann. Im letzten Panel kommt stets die Pointe. Manchmal witzig, manchmal traurig, oftmals bittersüß. Wilson ist formal so statisch wie sein Charakter. Aufgelockert wird das starre Schema durch die verschiedenen Zeichenstile, derer Clowes sich bedient. Von Seite zu Seite unterscheiden sich die Figuren in ihrem Abstraktionsgrad: mal wirkt Wilson realistisch gezeichnet, mal sehr cartoonhaft mit Knollennase. Die meisten Seiten sind vierfarbig, einige monochrom. Die Stile wechseln wie die Stimmungen des Helden. Tragischerweise bleibt Wilson aber Gefangener seines Schemas.

>> Daniel Clowes: Wilson, 2010; dt. Eichborn 2010, Reprodukt 2016.

Die Kunst der Splash page

Avant-Verlag

Avant-Verlag

Fliegenpapier von Hans Hillmann ist ein geborgener Schatz unter den Comics. Comic ohne ein Comic sein zu wollen. Manche nennen es Graphic Novel avant la lettre. Ein Vorzeigebuch für alle, die noch immer nicht kapiert haben, dass das Erzählen in Bildern auch außerhalb von Filmen eine Kunst ist, die nicht bloß Kinder anspricht. Ein erwachsen wirkendes Buch, das sich aber nicht wichtig macht. In seiner Bescheidenheit ist es verständlich, dass es so lange unbekannt blieb, in seiner Großartigkeit ist es eine Schande, dass es erst jetzt groß rauskommt – in einer würdigen Aufmachung.

Die Story? Ein Standard-Krimi um einen Privatdetektiv. Ein Noir-Plot um Vermisste und Tote. Aber eigentlich Nebensache. Und so behandelt Hillmann sie auch. Der Ursprungstext von Dashiell Hammett ist reduziert auf das Wesentliche, verdrängt an den unteren Seitenrand. Sprechblasen gibt es nicht. Der Text ist bloß Aufhänger für die eigentliche Erzählung, die sich in den Bildern abspielt. Und es sind nicht bloß Panels in einem Raster. Es sind lauter Splash pages: Die schwarz-weißen, expressionistischen Gemälde füllen stets eine ganze bis zwei Seiten und lassen viel Raum, um sich von ihnen einnehmen zu lassen: von den noiresken Helldunkelkontrasten, von sinistren Gestalten in schattenwerfenden Hüten, von der Dynamik der Kämpfe und Schießereien, von den cineastischen Kamerafahrten wie etwa ein Zoom, der durch ein Fenster über einige Häuser hinweg führt und damit den Schauplatz elegant verlagert.

Ein Comic, das nur aus Splash pages besteht – das hat es für ein großes Publikum zuletzt 1992 bei einem welterschütternden Ereignis wie Supermans Tod gegeben. Es ist der feuchte Traum eines jeden Comic-Fans. Hier wird er wieder wahr. Fliegenpapier wirkt wie ein Film, den man gerne gesehen hätte, aber bei dem man am Ende froh ist, dass es doch ein Comic geworden ist – mit 250 prächtigen Seiten, die schnell gelesen sind, aber lange und immer wieder bewundert werden können. Jede einzelne kann man sich einrahmen.

>> Hans Hillmann: Fliegenpapier, Avant-Verlag 2015, 29,95 Euro.

Postapokalyptische Dekadenz

Image Comics

Image Comics

Warum der Comic Suiciders von Lee Bermejo ein Hingucker ist.

Nach einem großen Erdbeben ist Los Angeles alles andere als die Stadt der Engel. Die Stadt ist abgespalten vom Rest der USA und auch in sich gespalten: Auf der einen Seite der Mauer liegt New Angeles, wo kaum jemand ohne Schönheitschirurgie, Implantate oder Prothesen lebt. Zur Belustigung der Massen dient nicht mehr die Traumfabrik Hollywood, sondern das brutale Gladiatorenspiel der sogenannten Suiciders. Auf der anderen Seite liegt Lost Angeles, ein trostloser Ort, vom dem immer wieder Menschen in den besseren Teil der Stadt zu fliehen versuchen. Wer erwischt wird, wird sofort von Grenzern mit Maschinengewehrkugeln zerfetzt.

Die Zukunft bietet keinen Fortschritt, sondern einen Rückfall zu antiker Rohheit und spätrömischer Dekadenz. Doch wie üblich erzählt auch diese Dystopien nicht von der Zukunft, sondern hält der Gegenwart den Spiegel vor. Die Comic-Serie Suiciders handelt vom Kampf ums Überleben in einer Zweiklassengesellschaft und Unterhaltung auf Kosten der moralischen Abstumpfung, vom Selbstoptimierungswahn einerseits und von der Verzweiflung, der blanken Not zu entkommen. Damit ist der Band auch ein Beitrag zur aktuellen Flüchtlingskrise (wenn auch in den USA eher die Zuwanderung über den Tortilla Curtain das naheliegendere Thema ist).

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Saufen bis der Arzt kommt

Metrolit

Metrolit

Warum die Comic-Adaption von Hans Falladas Der Trinker das Lesen lohnt.

Die Prämisse ist unsympathisch: Schon wieder so ein Comic, das sich „Graphic Novel“ schimpft, weil es einen Klassiker der Literatur adaptiert. Das tun zwar Filme auch, aber bei Comics hat es zum einen etwas Anbiederisches, weil es versucht, sich über ein anerkanntes Medium zu legitimieren, und zum anderen untergräbt es dadurch zugleich seine Autonomie, die es behaupten möchte. Und wenn man die ersten Seiten von Der Trinker aufschlägt, wird der Eindruck nicht sympathischer: In einer Vorbemerkung klärt uns das Buch darüber auf, wie es gemacht ist. Dass die Geschichte des Romans mit Hans Falladas Leben verbinde, dass es sich also aus Romanzitaten, Briefen und weiteren Quellen zusammensetze. Dass das Buch sich die Freiheit rausnehme, die Vorlagen nach Belieben anzuordnen – Selbstverständlichkeiten.

So eine peinliche Offenlegung und Rechtfertigung der Poetik noch bevor die Geschichte anfängt, hat etwas so Technokratisches, dass einem die Lust an der Kunst vergehen kann. Zum Glück aber macht das Werk schnell diesen ersten Eindruck vergessen. Dem Grafiker Jakob Hinrichs gelingt es mit seinen expressionistischen Panels, den groben Strichen, grellen Farben und verzerrten Perspektiven, den Rausch und den damit einhergehenden Wahnsinn zu visualisieren. Eindringlich vermittelt er das Gefühl einer gestörten Wahrnehmung, der inneren Unruhe und dem Drang, sich betäuben zu wollen. Falladas Trinker geht weniger am Alkoholismus als an seiner Selbstüberschätzung, Paranoia und seinem Selbstbetrug zugrunde. Fallada, der eigentlich Rudolf Ditzen hieß, erschießt im Suff sogar beinahe seine eigene Frau.

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