Jeff Lemire

Jeff Lemire: Frogcatchers

frogcatchers cover

Simon & Shuster

Ein Mann wacht in einem Hotel mit Meerblick auf. Er weiß anscheinend nicht, wie er da hingekommen ist. Er findet einen Schlüssel für das Zimmer 309, an der Tür ist ein Frosch angenagelt. Ein Junge führt ihn in den Keller, dort sollen sie sich vor dem Frog King verstecken. Er warnt den Mann vor dem Zimmer 309, weil dort die schlimmsten Ängste wahr werden können. Dann tauchen plötzlich zwei Froschmenschen auf, sie fliehen ins Zimmer 309 und finden einen alten kranken Mann in einem Krankenhausbett …

Unter all den Comics wie Black Hammer, Gideon Falls und Descender/Ascender findet Jeff Lemire noch Zeit für kleine, persönliche Projekte, die er selbst zeichnet. Mit Frogcatchers knüpft er zum einen an seinen Mystery-Comic The Underwater Welder (dt. Der Unterwasserschweißer) an und zugleich an seine Lieblingsthematik: die eigene Vergänglichkeit im Tod.

Lemire findet dafür eine sehr raue Bildsprache: Seine Striche wirken unruhig und skizzenhaft, die surrealen Sequenzen scheinen mehr ein Entwurf als ein fertiges Werk zu sein. Lemire verlässt sich mehr auf seine Bilder als auf die Sprache, er braucht lange, um jemanden sprechen zu lassen und auch dann wird nur das Nötigste geredet.

Die Story handelt nicht von Charakteren. Sie spielt sich auf einer symbolischen Ebene ab und wirkt damit eher wie eine Parabel mit universaler Gültigkeit. Die Frösche werden zum Sinnbild fürs Leben, das man nur einfängt, um es wieder loszulassen. Die Erinnerung an das jüngere Ich wird zum Sterbebegleiter. Das ist sentimental, an der Grenze zum Banalen.

Frogcatchers ist ein Comic, das man zu schnell liest, als dass etwas davon hängen bleiben könnte. Einerseits wünscht man sich mehr, andererseits wirken Träume oder Nahtoderlebnisse auf Dauer auch zu ermüdend, um ein ganzes Buch damit zu füllen. So ist Frogcatchers nur ein Nebenwerk von Lemire, das man einmal als Paperback lesen kann.

Black Hammer: Streets of Spiral

black hammer streets of spiral

Dark Horse Comics

Erst im Dezember erscheint der nächste Black Hammer-Band, Age of Doom Part 2, aber bis dahin beliefert Autor Jeff Lemire zuverlässig seine Fans mit neuem Material, um die Wartezeit zu verkürzen und erweitert sein Universum.

Der Band Streets of Spiral versammelt drei Geschichten, die bisher in Einzelheften erschienen sind. Die erste, „Giant Sized Annual“, spielt in der Zeit vor der Farm-Storyline und erzählt, wie die Helden zu verschiedenen Zeiten mit einem mysteriösen Wesen kämpften, ein Risenauge mit Tentakeln, das sich gerne auf den Köpfen von Menschen festsetzt. Wir sehen Abraham Slam, Barbalien, Golden Gail, Madame Dragonfly und Colonel Weird ihre Erfahrungen mit dem Wesen sammeln, das sich jedes Mal leicht in die Flucht schlagen lässt, aber am Ende doch rätselhaft bleibt. Nur Weird scheint mehr zu wissen, aber leider lässt er die Leser nicht daran teilhaben.

Wie so oft bleibt der Eindruck zurück, dass Lemire Erwartungen aufbaut, um zu etwas viel Größerem hinzuleiten. Die Geschichte ist trotz des immergleichen Ablaufs interessant erzählt, weil jede Episode von einem anderen Zeichner dargestellt wird, darunter sind Künstler wie Nate Powell (Come Again), Matt Kindt, Dustin Nguyen (Descender) und Mike Allred. Besonders eindrucksvoll sind die aquarellierten Seiten von Ray Fawkes.

Die zweite Story ist ein Spin-off zu einem Nebencharakter: Chtu-Louise ist die Tochter des ehemaligen Schurken Chtu-Lou, ein Klempner, der seit einer Begegnung mit einem Tentakelwesen zu einem Zwitter-Monster mutiert ist. Seine Tochter trägt das gleiche Stigma – und leidet darunter, weil sie gehänselt wird. Da verspricht ihr der Großvater, jenes Tentakelwesen Erlösung …

Black Hammer Straßen von Spiral City

Splitter-Verlag

Chtu-Louise ist eine typische Geschichte über Diskriminierung und den Wunsch, normal zu sein. Dabei nimmt die Story eine drastische Wendung, die zwar schlüssig endet, aber doch nah am Kitsch gebaut ist.

Schließlich wird mit „Horrors to Come“ wieder nur eine Art Teaser für die große Geschichte erzählt. Lauter Andeutungen, ohne Handlung – das ist etwas dürftig. Lemire hat viele Geheimnisse im Gepäck, aber statt immer mehr davon aufzubieten, sollte er lieber Fragen beantworten. Eine ist zum Beispiel, warum er in diesem Band Doctor Star plötzlich „Doctor Andromeda“ nennt. Offenbar hat er sich anders überlegt. Hat sich etwa DCs Rechtsabteilung beschwert oder steckt dahinter ein größerer Plan?

Ansonsten ist der Rest von Streets of Spiral mit einem Who-is-Who des Black Hammer-Universums gefüllt. Aufmerksame Leser brauchen die Charakter-Biografien nicht, sie können aber als Erinnerungsstützen dienen. Doch wenn am Ende auch noch ein paar Seiten mit Skizzen und Entwürfen kommen, bleibt der Verdacht, dass man hier mit Müh und Not einen Band füllen wollte, dem es an Material mangelt, um einen Preis von 20 US-Dollar zu rechtfertigen. Wer das Ding nicht im Regal braucht, dem sei zur digitalen Version bei Comixology geraten – die ist nur halb so teuer.

>> Jeff Lemire u.a.: Black Hammer: Streets of Spiral, Dark Horse 2019 (dt. Straßen von Spiral City, Splitter Verlag 2019).

Mehr Black Hammer:

Jeff Lemire: Gideon Falls

Father Fred, ein alter Pfarrer, übernimmt eine Gemeinde in Gideon Falls, einem kleinem Ort auf dem Land. Nicht nur der Alkohol ist sein Problem: In der ersten Nacht erscheint ihm sein Vorgänger, der eigentlich tot sein müsste, er folgt ihm ins Kornfeld, sieht eine schwarze Scheune aus dem Nichts auftauchen und verschwinden, kurz darauf liegt eine Leiche vor ihm. Er gerät unter Mordverdacht. Niemand glaubt ihm …

Aber da gibt es noch Norton, einen jungen Mann, der in einer größeren Stadt den Müll nach alten Holzsplittern und Nägeln durchsucht. Er sammelt die Teile, um daraus eine schwarze Scheune zu bauen, ein Bild, das ihn seit der Jugend verfolgt. Norton hat offenbar psychische Probleme, geht zur Therapie, aber auch seine Therapeutin glaubt ihm nicht – bis sie selbst Dinge sieht, die sie sich nicht erklären kann.

Autor Jeff Lemire hat so ziemlich jedes große Comic-Genre abgegrast: Science-Fiction, die Dystopie, Superhelden und das ganz bodenständige Drama. Mit der Serie Gideon Falls traut er sich (wie schon bei The Underwater Welder) in den Bereich von Horror und Mystery vor. Das Thema Wahnsinn ist ihm seit Moon Knight nicht fremd, und traurige, gebrochene Charaktere sind ohnehin schon immer sein Spezialgebiet gewesen. Hier bringt er alles zusammen, und wieder auf dem Land, wo auch schon Essex County und Black Hammer spielen.

Man merkt an Gideon Falls, dass Lemire ein Twin Peaks-Fan ist: Die schwarze Scheune erinnert als Ort des Bösen an die schwarze Hütte (black lodge) aus der Serie von David Lynch, hier wie da gelten eigene, zunächst undurchsichtige Gesetze. Es gibt auch hier eine Geheimgesellschaft von Lokalhelden, die dagegen kämpft (Ploughmen), in Twin Peaks sind es die Bookhouse Boys, der Held ist in beiden Fällen ein Fremder von außen, und wenn eine Schachtel eingewickelt in Folie erscheint („wrapped in plastic“), muss man einfach unweigerlich an die tote Laura Palmer denken. Die Anleihen sind jedoch nur angedeutet. Lemire bringt so viel eigene Phantasie ein, dass seine Geschichte auf eigenen Füßen steht. Gekonnt baut er Spannung auf und überrascht in jedem Kapitel mit neuen Enthüllungen, die zeigen, dass hinter der Oberfläche eine umfangreiche Mythologie mit vielen Schaurigkeiten steckt.

Ein wichtiger Träger der Geschichte sind die Bilder, die Andrea Sorrentino für sie findet. Lemire hat bereits an Green Arrow und Old Man Logan mit dem Italiener zusammengearbeitet, aber hier übertrifft sich der Künstler mal wieder selbst. Sorrentino hat einen Sinn für düstere, beklemmende Stimmungen, das er hier mit harten Schatten, unruhigen Schraffuren und furchterregende Gestalten voll ausleben kann, ganz besonders den mysteriösen, jokerhaft grinsenden Mann, der immer wieder starrend aus der Finsternis auftaucht.

Sorrentino beweist hier aber auch sein Faible für ungewöhnliche Perspektiven und experimentelle Layouts. In Gideon Falls gibt es immer wieder Doppelseiten, in denen die Panels zersplittern und sich überlappen, sie erscheinen kreisförmig, wellenförmig und einmal sogar in einer Reihe von Würfeln, die auf jeder Seite eine Sequenz aus einer anderen Perspektive zeigen. Manche Seiten sind regelrecht überflutet von unzähligen winzigen Panels, man muss ganz genau hinschauen, einige Male muss man das Heft oder Buch sogar drehen, um der Handlung folgen zu können.

So wird das Lesen selbst zu einem einzigartigen Erlebnis, weil man sich nicht nur ständig fragt, was als nächstes passiert, sondern auch die Form hat etwas beunruhigend Unstetes an sich, sodass man sich in diesem Comic ständig neu einrichten muss. Sorrentino fordert die Leser visuell heraus, dank ihm bekommt die Geschichte eine größere Tiefe und lässt erahnen, dass da noch viel mehr kommen wird, worauf man sich freuen kann – oder besser gesagt: Was man fürchten muss. Ohne zu wissen, welche Wendungen die Story in den nächsten Bänden nehmen wird, kann man sagen: Gideon Falls ist jetzt schon ein Meisterwerk der Comic-Kunst.

>> Jeff Lemire/Andrea Sorrentino: Gideon Falls Vol. 1: The Black Barn, Vol. 2: Original Sins, Image Comics 2018/2019 (dt. Gideon Falls Bd. 1: Die Schwarze Scheune, Splitter Verlag 2019; Band 2 erscheint im September).

Jeff Lemire: The Quantum Age

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Dark Horse

Der überfleißige Jeff Lemire lässt nichts anbrennen. Während die Leser seiner Black Hammer-Serie auf den vierten Band warten, vertreibt er ihnen die Zeit mit immer wieder mit Spin-offs. Normalerweise sind solche Geschichten in Superhelden-Comics Füllmaterial, Lemire aber erweitert damit seine Welt um Charaktere (wie etwa den Schurken Sherlock Frankenstein und den Helden Doctor Star) und nun auch eine ganz neue Zeit: das Quantum Age.

100 Jahre später spielt der neue Band, in einer Zeit, in der die alten Helden entweder tot oder vergessen sind, Black Hammer ist immer noch eine Frau, aber im Ruhestand. Die Welt wird beherrscht von einem Tyrannen mit Superkräften, der einst selbst ein Helden der Quantum League war. Nach einer Invasion böser Marsianer mussten die Helden das ultimative Opfer bringen, um die Welt zu retten, aber das führte zur Diktatur. Nun sammeln sich die verbliebenen Good Guys, um den Schurken zu besiegen.

Die Quantum League ist Lemires Hommage an die League of Superheroes von DC, dabei wird der Cyborg Archive zum Brainiac 5-Ersatz, der die Funktion des Roboters Talky Walky übernimmt. Ansonsten ist es eine ziemlich traurige Truppe, die hier zusammenfindet: Barbaliteen ist der letzte Marsianer, Modula ist eine lilafarbene Alienfrau, die ihre Beine verloren hat und nun Kette raucht, Erb ist ein gürteltierartiger Telepath, der von tiefer Skepsis und Grammatikproblemen geprägt ist. Damit erinnert die neue Quantum League auch eher an eine Chaostruppe wie die Guardians of the Galaxy.

In mancher Weise erinnert der Plot an die Avengers-Filme Infinity War und Endgame. Hier wie da geht es um eine Mission Impossible gegen einen schier unbesiegbaren Gegner. Hier wie da geht es um ein Opfer, das vielen den Tod bringt, aber auch viele retten soll. Hier wie da berechnet ein Superhirn alle Wahrscheinlichkeiten vieler Pläne. Hier wie da wird eine Zeitreise in Erwägung gezogen, um das Schlimmste zu verhindern, bevor es passiert. Allerdings: Für sein Dilemma findet Lemire am Ende eine geschickte und originelle Lösung, die nicht auf den üblichen Kampf zwischen Gut und Böse hinausläuft.

Wie immer schafft es Lemire, in nur sechs Kapiteln einige Charaktere mit Leben zu füllen und hier sogar noch stärker den Bogen zur Hauptserie zurückzuschlagen. Nur der Schurke kommt dabei zu kurz, obwohl er deutlich Potenzial hätte, mehr als bloß ein böser und fast allmächtiger Tyrann zu sein. Der Comic leidet auch auf der visuellen Ebene, denn Zeichner Wilfredo Torres inszeniert die Welt zu glatt, detailarm, fast schon steril und seine Figuren lassen an Ausdruck zu wünschen übrig. An die Sperrigkeit eines Dean Ormston, der Black Hammer seinen Charakter verleiht, kommt Torres nicht heran. Die knallbunten Farben von Dave Stewart können gegen diesen Eindruck nur wenig ausrichten.

Mit The Quantum Age beweist Lemire zwar große Ambitionen, indem er zwar noch einen 100 Jahre währenden Erzählrahmen absteckt und sogar weit darüber hinausweist, was die Fans auf noch viele Geschichten aus dieser Welt freuen lässt. Die Zeichnungen hindern den Comic aber daran, sein volles Potenzial zu entfalten.

>> Jeff Lemire/Wilfredo Torres: The Quantum Age, Dark Horse 2019.

Jeff Lemire: Doctor Star

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Dark Horse

Wer nach den Sternen greift, übersieht leicht die Erde, auf der er steht. Diese Lektion lernt der Wissenschaftler Jim Robinson auf schmerzlichste Art. In den 40ern wird seine Forschung von der US-Regierung gefördert, um eine Waffe gegen die Nazis zu erschaffen, er entwickelt einen Energiestab, mit dem er durchs All fliegen und Schurken bekämpfen kann. Robinson wird zum Superhelden Doctor Star und schließt sich der Liberty Squadron an.

Doch nachdem er die Zivilisation eines fernen Planeten vor einem Ungeheuer bewahrt, stellt er bei der Rückkehr fest, dass er 18 Jahre weg war. Seine Frau lebt als verbitterte Alkoholikerin in Armut, sein Sohn zieht in den Vietnamkrieg und will nichts mehr von ihm wissen. Schließlich erkrankt der Sohn auch an Krebs und Robinson versucht, seinen Fehler wiedergutzumachen.

Lemires Doctor Star ist eine Hommage an DCs Superhelden Starman, der bereits 1941 seinen ersten Auftritt hatte, aber auch an den Autor James Robinson, der der Figur in den 90ern ein vielgelobtes Revival verlieh. Mit diesem Spin-off baut der Autor sein Black-Hammer-Universum weiter aus. Nachdem er mit Sherlock Frankenstein einem Schurken mehrere Ausgaben widmete, bis dieser keiner mehr war, führt er hier vor, wie ein Held scheitert, obwohl er heldenhaft handelt.

Wie üblich besteht der Schwerpunkt der Geschichte nicht in der Superhelden-Action, sondern in dem menschlichen Drama, das durch den Heldeneinsatz eine tragische Wendung bekommt. Robinson erzählt seine Geschichte seinem Sohn am Krankenbett und erhofft sich dadurch Vergebung. Lemire schreibt wie gewohnt feinfühlig und macht die Leiden der Figuren nachvollziehbar.

Zeichner Max Fiumara reichert mit seinen detailreichen Illustrationen sowohl die stillen Momenten als auch die Actionsequenzen mit einem Ausdruck an, der dem der Worte in nichts nachsteht.

Damit ist Doctor Star and the Kingdom of Lost Tomorrows ein Comic, das sich zwar gut ins „Hammerverse“ einfügt, aber auch ohne Kenntnis der Hauptserie gut lesbar ist und sogar Lust auf mehr macht. Hier erscheinen die Spin-offs nämlich nicht wie eine Nebensache.

>> Jeff Lemire/Max Fiumara: Doctor Star and the Kingdom of Lost Tomorrows, Dark Horse 2018 (dt. Doctor Star und das Reich der verlorenen Hoffnung, Splitter 2018).

Sweet Tooth im Weltraum

Jeff Lemire: Descender

Roboter sind in der interplanetarischen Gemeinschaft des United Galactic Council Alltag. Sie verrichten einfache Aufgaben, sie haben keine Rechte, sind ähnlich wie Sklaven. Doch als eines Tages aus dem Nichts riesige Roboter auftauchen, die Menschen und Aliens auf den neun Planeten töten und dann ebenso plötzlich wieder verschwinden, beginnt eine Hetzjagd auf Roboter. Ihnen wird vorgeworfen, diese sogenannten Harvester erst hergebracht zu haben, um eine Revolution gegen ihre Herren anzuzetteln.

In all dem Trubel erwacht ein Roboter, der einem Jungen gleicht: Tim-21. Einst war er ein Gesellschafter für einen Jungen namens Andy in einer Minen-Kolonie, doch nach zehn Jahren Schlaf stellt er fest, dass alle tot sind. Nur Andy fehlt, also macht er sich auf die Suche nach ihm. Das UGC hat wiederum ein Interesse an Tim-21, weil er eine Verbindung zu den Harvestern haben soll, deshalb schickt es zwei Offiziere und seinen Erbauer los, um nach ihm zu suchen.

Die Story erinnert zuerst an den Spielberg-Film A.I. – Künstliche Intelligenz. Hier wie da geht es um einen Roboter-Jungen, der nach einem Familienmitglied sucht. Hier wie da werden Roboter gehasst und vernichtet. Bei Descender wird jedoch die Handlung in ein Star-Wars-artiges Weltraum-Szenario verlegt: Der Völkerbund zerfällt, es herrscht Chaos.

Beim zweiten Blick erinnert Descender jedoch noch stärker an Sweet Tooth, die andere lange Serie von Jeff Lemire. Folgende Elemente sind gleich:

  • ein Waisenkind
  • mit besonderen Fähigkeiten,
  • die ihm zum gejagten Außenseiter machen,
  • mit Verbindung zu einer geheimnisvollen Katastrophe,
  • ein heruntergekommener Wissenschaftler mit einem dunklen Geheimnis

So gesehen wäre Descender nichts weiter als eine Art Sweet Tooth im Weltraum, wenn nicht Jeff Lemire ein so handwerklich geschickter Erzähler wäre, der seinen Charakteren genug Raum gibt, sich zu entfalten und eine eigene Welt entwickelt, in der man sich verlieren kann. Aufgewertet wird die Serie vor allem durch die Bilder von Dustin Nguyen. Er zeichnet seine Panels, ohne sie zu tuschen und übermalt sie mit Wasserfarbe. Dadurch entsteht eine organische Stimmung, die im Gegensatz zu der meist kalten Atmosphäre der Weltraum-Welten steht.

Die Serie Descender ist in den USA gerade mit Ausgabe #32 zu Ende gegangen. Nächstes Jahr soll sie mit Ascender fortgesetzt werden.

>> Jeff Lemire/Dustin Nguyen: Descender. The Deluxe Edition Vol. 1, Image 2017. (dt. Splitter-Verlag, Bd. 1-3, insgesamt 6 Einzelbände)

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Der Dieb der Unsterblichkeit

Scott Snyder/Jeff Lemire: A.D. After Death

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Jonah Cooke ist ein Dieb, der alles stehlen kann. Kunstwerke, Klaviere, sogar Raumkapsel aus 2001 hat er in seinem Depot. Einmal schafft er es sogar, eine verbotene Farbe zu stehlen, doch seine größte Errungenschaft ist der Diebstahl, oder besser die Entführung einer ganz besonderen Frau namens Claire. Diese Frau leidet unter einer Krankheit, die ihre Organe in unterschiedlichem Tempo altern. Doch ihr Leiden verspricht das Ende des ältesten Leidens der Menschheit: den Tod.

Und tatsächlich: In einem Refugium in den Bergen besiegen Wissenschaftler mit Hilfe von Claire den Tod. Zugleich wird alles Leben von einem unaufhaltsamen Organismus vernichtet. Es bleiben nur ein paar Tausend Menschen übrig, die die Seuche überlebt haben – und immer weiterleben. Doch über 600 Jahre nach dem Tod entdeckt Jonah einen Hinweis darauf, dass da unten noch Leben sein könnte. Er entführt die immer noch kranke Claire erneut und macht sich mit ihr im Gepäck auf eine gefährliche Reise.

A.D. After Death, ein Gemeinschaftswerk von Autor Scott Snyder (Batman, The Wake, Wytches) und Zeichner Jeff Lemire, ist nur zum Teil ein Comic, überwiegend ist es ein illustriertes Prosawerk. Wir lesen die Erinnerungen von Jonah von frühester Kindheit an, wie seine Mutter starb, als er ein Kind war, und dabei auch ihr ungeborenes Baby. Wie er mit seiner Mutter in fremde Häuser einstieg, wie er anfing zu stehlen und sich zum Meisterdieb steigerte, bis er von einem Millionär den Auftrag bekam, der dazu führte den Tod zu überwinden. Im Laufe des Textes wird klar, dass Jonahs Erinnerung schwindet, weil er mit jedem neuen Lebenszyklus vergisst.

Es ist eine starke, eindringliche Prosa, die Snyder hier abliefert, aber auch eine, die teilweise zu sehr ausufert. Wenn man die Textpassagen als Rückblenden eines Science-Fiction-Comics liest, könnte man in den zu detaillierten Schilderungen der Vergangenheit und Reflexionen die Geduld verlieren. Da sie aber den Hauptteil des Buchs ausmachen, wirken eher die Comic-Sequenzen wie Beiwerk. Die Entscheidung, das Werk so aufzuteilen, leuchtet auch nicht ganz ein: Manchmal liest man sich durch Bleiwüsten, manchmal bleibt sehr viel Leerraum, weil nur ein kleiner Teil der Seite mit Text oder Illustration bedruckt ist. Während es also manchmal wie eine Verschwendung von Worten erscheint, wird an anderer Stelle Platz verschwendet.

Verschwenden sie aber auch unsere Zeit? Das nicht, denn die Snyder und Lemire erzählen eine interessante wie bildstarke Geschichte, die ebenso fesselt wie nachdenklich macht und mit einer überraschenden Wendung endet. Nur die Ausführung überzeugt, trotz handwerklicher Stärken, eben nicht ganz.

>> Scott Snyder/Jeff Lemire: A.D. After Death, Image 2017. (Keine deutsche Ausgabe.)

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Der fünffache Familiengeist

Jeff Lemire: Royal City

Wenn eine Familie sich auseinandergelebt hat, bringt sie erst ein Unglücksfall zusammen. So geschieht es in Royal City, einer Kleinstadt in den USA: Der Vater erleidet einen Schlaganfall, der älteste Sohn Pat kommt aus Los Angeles angereist, Schwester Tara lebt noch in der Stadt, ebenso wie der jüngere Bruder Richie, aber der hat schon lange den Kontakt abgebrochen. Doch da ist noch ein viertes Kind: Tommy – er verbindet, was zusammengehört. Er ist 1993 mit 14 Jahren gestorben, aber trotzdem erscheint er jedem Familienmitglied immer noch. Und jedes Mal anders: Dem Vater als Kind, der Mutter als Priester, der mit ihr betet, Richie als Saufkumpane, Tara erscheint er als das Kind, auf das sie als große Schwester einst aufgepasst hat. Doch Tommy ist keineswegs nur Einbildung.

Jedes Familienmitglied hat eigentlich andere Sorgen: Karriere und kaputte Beziehungen. Pat ist ein Schriftsteller, der nach seinem ersten Bucherfolg einen Flop herausgebracht hat und nun mit seinem dritten hinterherhinkt. Für seinen Erstling hatte er sich beim Tagebuch seines toten Brudes Tommy bedient. Seine Ehe mit einer Schauspielerin zerbricht. Tara, eine Immobilienmaklerin, will die Fabrik der Stadt – den Hauptarbeitgeber – gegen eine Freizeitanlage ersetzen, doch dagegen wehrt sich ihr Mann, der in der Fabrik arbeitet. Auch diese Ehe zerbricht. Und Richie, ein Trinker und Spieler, hat 2000 Dollar Schulden bei einer Rockerbande und muss das Geld innerhalb einer Woche zusammenkratzen. Die Mutter hat eine Affäre.

Im zweiten Band erfahren wir, was mit Tommy geschehen ist: Ein Außenseiter, der unter heftiger werdenden Kopfschmerzen litt, der den Fehler beging, zu seinen Tabletten Alkohol zu trinken und der noch entjungfert wurde, bevor er starb. Wir lesen seine letzten Aufzeichnungen, aus denen der Bruder später einen Roman macht. Aus der Teenager-Perspektive wird deutlich, wie beklemmend es sich anfühlt, in einer industriellen Kleinstadt aufzuwachsen, wie abhängig die Stadt von der Fabrik ist, in der die Menschen wie in einer Tretmühle arbeiten. Das Leben ist determiniert. Die meisten ergeben sich in ihr Schicksal und leben so wie die anderen.

Besonders exemplarisch dafür ist das Leben von Pat, der die Mühle nicht will, aber aus Mangel an Alternativen trotzdem nach der Schule in der Fabrik jobbt. Als er aufhört, um Schriftsteller zu werden, weiß er aber nicht, worüber er schreiben soll. Daher bedient er sich bei einem Toten. Er verlässt Royal City so schnell er kannt, versucht ein anderer Mensch zu werden, aber jedes Mal, wenn er zurückkehrt, fühlt es sich für ihn an, als schlüpfte er wieder zurück in seine alte Haut. Eindringlich beschreibt er das ambivalente Gefühl, als ein Hybrid zwischen zwei verschiedenen Persönlichkeiten zu leben. Es ist ein Gefühl der Leere.

Jeff Lemire widmet sich hier erneut dem Leben in der Enge einer Kleinstadt. Wie schon in Essex County, The Nobody und Roughneck macht sich hier eine Melancholie breit, in der der alte Konflikt zwischen Bindungsbedürfnis und Freiheitsdrang ausgebreitet wird: Partnerschaft, Familie, Karriere – man will das Alte loslassen und das Neue wagen, aber das Alte lässt einen nicht los. Das wird Streit um die Zukunft der Fabrik deutlich: das Alte soll dem Neuen weichen. Aber das Neue hat es schwer. Genauso ist es in der Familie: Der kleinste Bruder Tommy ist tot, kann aber nicht von den Lebenden lassen (oder sie nicht von ihm) und Tara hat einige Fehlgeburten erlitten, will es nicht noch einmal versuchen – ihr Geisterbruder dient ihr als Kindersatz. Gleichzeitig dient die antike Radiosammlung des Vaters als Lösung für Richies Geldsorgen.

Lemire hat mit seiner Serie mal wieder ein hochinteressantes Werk geschaffen, mit einer spannenden Grundidee, in der er dem alten Geistermotiv einen neuen Aspekt abgewinnt. Wie üblich entwirft er starke Figuren, deren Motivation man nachvollziehen kann, und inszeniert sie in visuell beeindruckenden Zeichnungen und Wasserfarben, die die Melancholie wie in Tränen verschwimmen lassen.

>> Jeff Lemire: Royal City, 2 Bde., Image 2017-2018. Band 3 erscheint im Oktober 2018. (Keine deutsche Ausgabe.)

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Geschichte wiederholt sich

Jeff Lemire: Roughneck (2017)

Zwei Männer sehen einen Glatzkopf, der an der Bar hockt: Ist das nicht der bekannte Eishockeyspieler Derek Ouellette? Sie sprechen ihn an, er will seine Ruhe, das Spiel im Fernsehen anschauen, einer reicht ihm die Hand, er verweigert sich. Als der eine ausfällig wird, rammt Derek ihm die Stirn gegen die Nase und schlägt ihn zu Boden. Kurz darauf kommt der Sheriff vorbei, um Derek festzunehmen. Aber da sich die beiden schon lange kennen, kann Derek einfach weggehen, ohne dass ihm Konsequenzen drohen.

So läuft es in der Welt von Roughneck. Mit dem Comic kehrt Jeff Lemire wieder zu seinen Anfängen und Lieblingsthemen zurück: Das ländliche Kanda, die Enge der Kleinstadt, Eishockey und einen Einzelgänger, der sein Leben verpfuscht hat und sich buchstäblich durchs Leben schlägt (vgl. Lost Dogs und Sweet Tooth). Dereks Karriere als Eishockeyspieler endete, als er sich ein Vorbild an seinem Vater nahm und einen gegnerischen Spieler auf dem Eis ausknockte. Seitdem brät er Eier in einem Diner und schläft in der Abstellkammer einer Hockey-Halle. Als seine jüngere Schwester Beth plötzlich auftaucht, weil sie vor ihrem gewalttätigen Mann ist, und dann auch noch eine Überdosis erleidet, wird er zu ihrem Beschützer.

Die tragische Vorgeschichte der Geschwister bedient ein weiteres Lemire-Motiv: ein totes Familienmitglied (vornehmlich Elternteil), diesmal die Mutter, die auf der Flucht vor ihrem (gewalttätigen) Mann bei einem Autounfall ums Leben kommt. Beth lebte eine Zeit lang in der Stadt auf der Straße, nahm Drogen, ist jetzt schwanger. Und noch ein bekanntes Motiv wird hier deutlich: Geschichte wiederholt sich. Beth macht bei der Partnerwahl den gleichen Fehler wie ihre Mutter, Derek ist ein Säufer und Schläger wie sein Vater, der aber seine Schwester vor ihrem Mann bewahren muss. Klar, dass es auf eine Katharsis hinauslaufen muss, bei der der Kreislauf durchbrochen wird. (Und Clint Eastwood lässt mit Gran Torino grüßen.)

Lemire zeichnet und malt (wie schon bei The Nobody) überwiegend monochrom, die verschneite Gegend wird mit bläulich-grauer Wasserfarbe angereichert, nur die Rückblenden erscheinen – entgegen der Gewohnheit – vierfarbig. Die Landschaft bekommt viel Raum in meist breiten Panels, die Figuren wirken – typisch Lemire – nicht nur einsam, sondern verloren. Ähnlich wie die Krähe in Essex County dient hier wieder ein Tier als wiederkehrender Beobachter, ein streunender Hund, der den Helden in stillen Momenten ansieht und ihn an seine Verangenheit erinnert. Schließlich wird er sein Gefährte – der Held schließt Frieden mit sich selbst und kann immerhin die Gesellschaft eines Tieres dulden.

Trotz seiner von Lemire bekannten Motive ist Roughneck ein starkes Werk, was Charakterzeichnung und Ausdruck angeht. Es zeigt einen gebrochenen Helden, der sich überwindet, um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen – und damit auch den der Geschichte.

>> Jeff Lemire: Roughneck, Simon & Shuster 2017. (Keine deutsche Ausgabe.)

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Die tote Superheldin im Wald

Jeff Lemire: Plutona (2015-2016)

Image Comics

Fünf Kinder finden die Leiche im Wald: es ist die Superheldin Plutona. Der erste Reflex wäre zur Polizei zu gehen. Der zweite: es den Eltern zu sagen. Aber sie schweigen, denn sie fürchten, dass wenn der Tod bekannt wird, Superschurken die Situation ausnutzen könnten. Andere Superhelden haben eher anderes zu tun. Also beschließen die Kinder, die Leiche zu vergraben, aber am nächsten Tag ist sie plötzlich verschwunden. Der stille Teddy versucht, das Plutonas Blut mit seinem zu mischen, um selbst ein Superheld zu werden …

Die Story erinnert an Stephen Kings The Body, bzw. an den Film Stand by Me. Die Rollen sind paritätisch verteilt: Wir haben einen Draufgänger, der aus schwierigen Verhältnissen kommt, einen Nerd, der Ausschau nach Superhelden hält, ein pummeliges Mädchen, ein opportunistisches Mädchen und einen kleinen Jungen, der mit Gameboyspielen beschäftigt ist. Es sind nicht wirklich Freunde, selbst die beiden Mädchen halten nicht zueinander. Vor lauter Spannungen zwischen gibt es kaum Bindungen und Raum für Sympathien. Parallel zum Geschehen zeigen Rückblenden am Ende jedes Kapitels, wie Plutona in den Wald geraten ist. Ihr Leben war alles andere als super: Als alleinerziehende Kellnerin muss nach einer Doppelschicht, statt sich um ihre Tochter zu kümmern, Schurken bekämpfen.

Plutona erzählt eine simple Geschichte, die nach fünf Heften bzw. Kapiteln endet, bevor sie sich richtig entfalten kann. Die Charaktere bleiben oberflächlich. Daher überzeugt auch nicht die tragische Wendung, sie wirkt etwas übertrieben und konstruiert. Dass sie die Kinder nicht aus der Ruhe zu bringen scheint, verleiht dem Ganzen einen zynischen Beigeschmack. Die schlichten Zeichnungen von Emi Lenox mit ihrem starken Manga-Einfluss erscheinen kindgerecht, aber nehmen dadurch der Story auch etwas von ihrer Ernsthaftigkeit. Erst in den Rückblenden, die Jeff Lemire zeichnet, wird das Drama hinter dem Drama glaubhaft. Das wäre wohl der interessantere Teil der Geschichte gewesen. (Und bald darauf schuf Lemire mit Black Hammer auch seine eigene Superhelden-Serie.)

>> Jeff Lemire/Emi Lenox: Plutona, 2015-2016. (Keine deutsche Ausgabe.)

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