Mitch Gerads

Menschliche Müllhalde

Eine Leiche auf einer Straße in Bagdad ist im Jahr 2004 nichts Ungewöhnliches. Auch als am Triumphbogen der riesigen gekreuzten Schwerter von Kadesia ein Toter liegt, stellen sich zwei US-Soldaten die Frage, was sie mit ihm machen sollen. Von der Straße holen? „I’m supposed to pick up garbage“, wendet einer ein. „Is this garbage?“

Der Mensch ist im Nachkriegs-Irak von The Sheriff of Babylon nicht viel mehr wert als Müll. Und trotzdem: Ein US-Ausbilder für die irakische Polizei, Chris Henry, will wissen, was mit dem Mann passiert ist, denn der Tote gehörte zu seinen Schülern. Er bittet Sofia um Hilfe, eine irakischstämmige Amerikanerin mit guten Verbindungen, sie wiederum bittet Nassir um Hilfe, einen ehemaligen Polizisten, der unter Saddam Hussein gedient hat.

Doch schon zu Beginn der Geschichte, noch bevor die Handlung losgeht, erfahren wir, dass sowohl Sofia als auch Nassir über Leichen gehen, um ihre Ziele zu erreichen. Nassir hat buchstäblich Leichen im Keller. Drei US-Soldaten, an denen er sich für den Tod seiner drei Töchter rächt – sie sind durch eine Bombe umgekommen. Sofia tötet, um Probleme für andere zu lösen. Und Chris? Ist eher ein sensibler Typ, der einer Selbstmordattentäterin lieber gut zuredet, als sie zu erschießen.

Die Ermittlung im Mordfall wird für alle Beteiligten gefährlich. Kaum finden sie heraus, dass auch die Familie des Mannes getötet wurde, wird Nassir entführt und bedroht, Sofia wird in ihrem Auto beschossen. Dieses Badgdad ist eine chaotische Welt mit ihren eigenen Regeln, die ein Außenstehender wie Christopher nicht durchschaut, die nicht einmal die Einheimischen durchblicken. Und je tiefer sie in die Geschichte hineingeraten, desto schlimmere Wendungen nimmt das alles. Unschuldige sterben, bis die Schuldigen drankommen, aber selbst dann ist nichts besser und nichts klarer.

Tom King (Batman, The Vision) erzählt seine Geschichte zwar durchaus mit dem dem angebrachten Zynismus für diese ausweglose Situation, aber er lässt seine Charaktere sehr menschlich wirken. Niemand ist ein Held, jeder hat seine Schatten und Abgründe, aber trotzdem bleiben selbst die skrupellosesten Killer immer noch Menschen mit Gefühlen und Überzeugungen, die sie antreiben. In langen Dialogpassagen haben selbst Nebenfiguren Zeit, sich zu interessanten Charakteren zu entfalten.

Die realistischen Zeichnungen von Mitch Gerads lassen jeden ungemein plastisch und glaubhaft erscheinen. Selbst wenn sich eine Figur über drei Seiten in jedem Panel wiederholt, schafft er es, ihr eine neue Nuance abzugewinnen. Bagdad wirkt wie eine schmutzige Stadt, die von Dreck zerfressen wird. Jeder Tote löst sich sogleich darin auf und trägt noch mehr zu der Müllhalde bei. Man spricht von Fortschritt, wenn es endlich jemanden Zuständiges gibt, der die Leichen von der Straße schafft.

The Sheriff of Babylon ist ein Western im Nahen Osten. Es geht um Rache, es geht um Gerechtigkeit in einer gottverlassenen, hoffnungslosen Welt. Die Geschichte funktioniert als Comic hervorragend, trotz der Dialoglastigkeit schafft es King durch geschicktes Haushalten mit Informationen und überraschenden Wendungen, die Spannung immer weiter zu steigern. Würde man daraus einen Film machen, und es bietet sich sehr an, wäre er ohne Mühe ein Oscar-Kandidat.

>> Tom King/Mitch Gerads: The Sheriff of Babylon. Deluxe Edition, Vertigo 2018. (Noch keine deutsche Ausgabe.)