Zum Untergang der Schriftkultur

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Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung beschwört mal wieder das Ende des Abendlandes herauf, wenn nicht gar das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Dieses Mal: „Das Ende der Schriftkultur hat längst begonnen“, schreibt Autor Markus Günther in der Ausgabe vom 25. Mai. Die Welt von morgen werde kaum noch Menschen brauchen, die lesen und schreiben können. Die Gründe: Der Kapitalismus, der an gebildeten Menschen kein Interesse haben könne, aber auch die Technologie. YouTube-Videos übernehmen die Funktion von Gebrauchsanweisungen und Lehrbüchern, in Schulen haben Smartboards die Kreidetafeln ersetzt, ja selbst das Tippen auf einer Tastatur wird durch Diktierfunktionen von Smartphones obsolet gemacht, das Lesen wird durch Vorlesefunktionen abgelöst. Kurz: Audiovisuelle Medien verdrängen die Schriftkultur. Illustriert wird der Artikel mit der Überschrift „Nur noch Analphabeten“ von vielen Emoticons – als wären sie Sinnbild allen Übels.

Diese Entwicklung, so Günther, sei ein „Schritt in eine Welt, in der es hochqualifizierte Eliten und eine mangelhaft qualifizierte Masse gibt“. Das sei auch ein Schritt in die Vergangenheit, denn im Grunde sei die Schriftkultur die meiste Zeit über schon eine Sache der Oberschicht gewesen. Das mag zwar richtig sein, aber der Autor verkennt, dass hinter seiner Argumentation eine ebenso elitäre Auffassung steckt. Günther setzt die Medien nicht nur in ein Konkurrenzverhältnis, sondern auch in eine Hierarchie, an deren Spitze die Schrift steht. Das ist eine überkommene Auffassung, die davon ausgeht, dass der Anspruch und die damit die Kunsthaftigkeit mit dem Anstieg der Abstraktion einhergeht. Einfacher ausgedrückt: Bilder sind demnach etwas für Dumme, weil sie jeder kapiert. Diese bildskeptische Kulturauffassung ist eine gespaltene. Kein ernstzunehmender Intellektuelle wird den Gang in ein Kunstmuseum als Ausdruck von Barbarei bezeichnen, doch sobald Text und Bild eine Einheit bilden oder gar das Bild den Text in einem bestimmten Kontext ersetzt, fürchten die Elitären einen Niedergang in die Trivialität. Filme müssten also Literatur für die Illiteraten, Comics primitive Bildergeschichten für die Massen sein, Piktogramme die Gebrauchsanweisungen für die Analphabeten. Das Seriöse, Anspruchsvolle, Hochgeiste erkennt man folglich an der Bildlosigkeit. Aber die Mehrheit, so Günther, lese kaum noch Bücher, da es den Menschen an Ruhe, Geduld und Übung fehle.

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Passenderweise hat Spiegel Online am 25. Mai berichtet, dass das flüchtige Online-Lesen möglicherweise sich allgemein auf das Leseverhalten negativ auswirken könnten. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv, denn genau weiß das niemand. Vielleicht lesen wir einfach Texte am Bildschirm (und auf Internetseiten) anders als auf Papier, weil jedes Medium seine eigenen Anforderungen hat, bei Webseiten etwa muss sich der Blick an Werbung und Links vorbeinavigieren, während eine Buchseite kaum Ablenkung bietet. Doch auch FAS-Autor Günther vertritt die Meinung, die Masse lese im Internet nur Überschriften im Kurzinformationen, gefragt seien vor allem Suchmaschinen, Pornographie, Service und Unterhaltung, selbst auf Nachrichtenseiten würden Bilder und Kurzvideos am meisten geklickt werden. Günther fragt nicht, woran das im Einzelnen liegt, er führt all dies für seine These an. Dabei verkennt er, dass das Internet voller Texte steckt, die gelesen werden. Aber auch jenseits davon wird gelesen – und wie.

Die Statistik macht dies deutlich: Laut VerbraucherAnalyse 2012 der Axel Springer AG und der Bauer Media Group liegt das Lesen auf Platz elf der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der Deutschen. Die meisten Befragten waren Leser: 20 Prozent lesen „besonders gern“ Bücher, weitere 34,2 Prozent greifen „gern“ zum Buch. Im Jahr 2012 wurden laut Deutscher Nationalbibliografie und VLB insgesamt 91.100 Titel veröffentlicht. Das mag der niedrigste Wert seit 2005 sein, dennoch ist es immer noch eine Menge. Der Markt ist riesig – und eine große Gruppe muss das alles doch kaufen und lesen. Das muss nicht unbedingt am gedruckten Buch hängen: In den Bahnen sieht man immer mehr Menschen vor E-Readern sitzen, der Anteil der E-Books am Buchmarkt liegt bei etwa zehn Prozent – Tendenz steigend.

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Nun könnte man einwenden, dass die meisten dieser Bücher wahrscheinlich trivial seien: Krimis, Thriller, Fantasy, Liebes-, Erotik- und „Frauenromane“. Das stimmt, aber daran zeigt sich ein weiterer Schwachpunkt in Günthers Argumentation, denn das bedeutet, dass ein hoher Grad an Alphabetisierung noch längst nicht bedeutet, dass hinter einem Buch – auch wenn die Kollegen von der FAZ/FAS das gerne sähen – ein kluger Kopf steckt. Andererseits muss dieser auch nicht dumm sein, sondern einfach nur nach Unterhaltung suchen. Vor diesem Bedürfnis sind selbst die Klügsten nicht gefeit.

Das böse U-Wort darf man ja hierzulande in höheren geistigen Kreisen kaum sagen. Der deutsche Intellektuelle will sich mit dicken, schwierigen Büchern knechten, damit er sie hinterher wie Trophäen ins Regal stellen kann – auch, um sich von der Masse abzugrenzen, damit er Abitur und Studium nicht umsonst gemacht hat. Damit wären wir wieder bei Elitenbildung und einer breiten, anspruchslosen Masse. Man kann ohne große Resignation sagen: Das war schon immer so, das wird immer so bleiben – auch wenn immer mehr Menschen die Unis überrennen. Am beliebtesten wird das Reißerische, das Einfache, das Banale, das bestenfalls Durchschnittliche bleiben, also Katzenvideos und Bildergalerien, aber ebenso die Twilight-Romane, der Tatort am Sonntagabend und Filme der Transformers-Reihe. Mit Goethe und Thomas Mann wird man kaum jemals die Mehrheit erreichen. Das heißt noch längst nicht, dass sie nicht mehr gelesen oder nicht mehr gedruckt werden.

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Die Schrift wird nicht obsolet werden. Nicht nur, wegen der Juristen, Techniker und Wissenschaftler. Der FAS-Autor verkennt, dass die wichtigste technische Errungenschaft, der Buchdruck, zu einer Entgrenzung des Wissens geführt hat, der spätestens seit ihrer Steigerung durch das Internet unaufhaltsam ist. Ja, die Datenmenge des Internets besteht zum größten Teil aus Schund und Spam, doch auch aus unzähligen Nachrichtentexten, Wikipedia-Einträgen und Blogposts etc. Irgendjemand schreibt all das, weil es irgendjemand liest – oder wenigstens lesen kann. Unsere Kultur ist schriftbasiert. Man kann auch schriftgläubig sagen – und zwar ohne es zwangsläufig religiös zu meinen. Die bloße Tatsache, dass etwas irgendwo steht, verleiht einer Nachricht ihr Gewicht, eine Autorität. Zu begreifen, wie wichtig es ist, sich diesen Umstand zunutze zu machen (schreibend oder lesend), darin liegt der Vorteil, den man gemeinhin Bildung nennt. Diese Erkenntnis ist nicht mehr rückgängig zu machen.

Das Lesen stirbt genausowenig aus wie das Schreiben. Die Tatsache, dass heute mehr geschrieben wird als je zuvor, gesteht zwar auch Günther ein, doch er übergeht sie, um sich von Diktier- und Vorlese-Automatismen ängstigen zu lassen. Obwohl es diese Dinge gibt, ersetzen sie noch längst nicht das Schreiben und Lesen, sondern überträgt sie in andere Formen. Das Diktat ersetzt nicht das Formulieren, das Vorlesen nicht die Rezeption des Formulierten – sonst wären demnach Hörbücher auch etwas für Analphabeten. Günther verkennt bei seiner Technik-Skepsis, dass erst die Technik mehr Menschen als je zuvor, das Schreiben erleichtert und ermöglicht: Potenziell ist jeder ein Blogger, ein Kommentator, ein Autor. SMS und Twitter führen sogar zu einer neuen Art der Schriftkultur, einer gedrungenen Ausdrucksweise, bei der man sich vorher gut überlegen muss, wie man das Gemeinte in wenigen Worten oder Zeichen ausdrücken kann. Aber selbst die Nostalgiker, die der Handschrift nachhängen, kann man beruhigen: Letztlich bleibt die flüchtig hingekritzelte Notiz auf einem Zettel jedem elektrischen Gerät überlegen – schon allein, weil Papier keinen Akku braucht.

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Mit der Kommunikation über das Internet kommt noch eine weitere Komponente hinzu: Durch die Emoticons verschmelzen Schrift und Bild zu einer Einheit, in der etwas Neues entsteht. Man muss sich einmal vergegenwärtigen, was dabei geschieht: Wir zeichnen mit Satzzeichen. Damit schmeißen wir nicht die Orthographie über Bord (die es im Deutschen sowieso nicht mehr gibt), sondern schaffen neue Ausdrucksweisen, die uns im Schriftlichen annähernd die Nuancen der Sprache ermöglicht, die sonst nur im Gespräch mit Tonfall, Mimik und Gestik ausdrückbar sind. Das beste Beispiel dafür ist das Zwinker-Smiley, das jede Aussage relativiert, ironisiert. Darin zeigt sich, dass die Medien längst nicht mehr als getrennte Einheiten zu denken sind, die es zu bewahren gilt. Es gibt kein Neben- und kein Übereinander, nur noch ein Miteinander: Text, Bild, Ton – die Grenzen verschwimmen und die Fusionen bringen neue Ausdrucksformen hervor. Den technischen Fortschritt sollte man nicht als Gefahr, sondern als Chance für Kommunikation und Kunst betrachten, die Konkurrenz der Medien als ein fruchtbares Zusammenspiel. Die Schriftkultur stirbt dabei nicht aus – sie tut nur, was sie schon immer getan hat: sie wandelt sich.

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