Comic

Mark Millar: MPH

Cover zum Comic MPH

Image Comics

Wer einen miesen Start hat, muss nicht gleich das Rennen schmeißen. Roscoe will sich jedenfalls nicht unterkriegen lassen, nur weil er aus dem armen Detroit stammt. Okay, er verdient sein Geld, indem er für einen Dealer Drogen abliefert, aber dafür sammelt er 80 Prozent seiner Einnahmen, um einmal ein eigenes, ehrliches Unternehmen aufzubauen und endlich dem Elend zu entkommen. Dumm nur, dass er dabei im Knast landet. Fünfzehn Jahre. Fünf, wenn’s gut läuft.

Doch dann wirft er eine geheimnisvolle Pille namens MPH ein und plötzlich scheint die Zeit stillzustehen. Denn Roscoe bewegt sich so schnell, dass er mühelos und unbemerkt ausbrechen kann. Zuerst nimmt er Rache an dem Dealer, der ihn verraten hat. Dann raubt er dank MPH mit seinen Freunden ein paar Banken aus und verschafft sichd das Leben, von dem er immer geträumt hat. Zehn Prozent verteilt er an die Armen. Damit haben nicht nur die Behörden ihre Probleme, auch ein Freund sträubt sich dagegen. Alles wird noch schlimmer, wenn einer der Freunde eine Überdosis nimmt und plötzlich in der Vergangenheit landet …

Das Thema von schnelllaufenden Supermenschen ist seit Flash, Quicksilver und Co. ein alter Hut. Und trotzdem schafft es Mark Millar, das Motiv neu zu beleben, indem er seine Helden zu Gaunern macht, Gauner mit einem sozialen Gewissen. Bei dem Erzähltempo, das Millar hier wie üblich hinlegt, kommt der sozialkritische Aspekt etwas zu kurz. Es wird mehr darüber gesprochen, als dass die Probleme in Detroit greifbar werden. Und auch die Charaktere könnten ausgereifter und damit interessanter sein. Wie so oft bei Millar sind sie zwar lebensnah, aber bleiben austauschbar.

So hetzt Millar durch eine zwar wohlkonstruierte und dynamisch gezeichnete Geschichte, die sich zwar flüssig lesen lässt und am Ende ebenso überrascht wie befriedigt, aber nicht lange im Gedächtnis bleiben wird.

>> Mark Millar/Duncan Fegredo: MPH, Image Comics 2015 (dt. MPH – Schnelle Pillen, Panini 2016).

Tillie Walden: On A Sunbeam

Es gibt nur zwei Arten von Weltraumgeschichten: Überlebensdramen wie Apollo 13 oder Gravity und Science Fiction, in denen die Menschen mittels hochentwickelter Technik zu anderen Planeten fliegen und sie erforschen, wie bei 2001. Und es gibt nur zwei Kategorien von Weltraum-Science-Fiction: Star Trek und Star Wars. Wobei Star Wars nur auf den ersten Blick so aussieht wie Science Fiction, denn in Wahrheit ist es eine Fantasy-Story im Weltall. Also gibt es nur Star Trek und artverwandte.

Jetzt gibt es auch eine dritte, irgendwo dazwischen und doch etwas ganz Eigenes. Tillie Walden hat mit On A Sunbeam eine Weltraumstory geschaffen, die sich weder um Forscher auf fernen Planeten geht, noch um Aliens noch um interplanetarische Kriege. Es ist ein nur von Frauen bevölkertes Weltall, in dem Häuser einfach so herumtreiben, ganz ohne Planeten und Atmospähren. Man braucht weder Raumanzüge noch anderen technischen Schnickschnack, die Raumschiffe sehen aus wie Zierfische – oder sie sind welche, so ganz genau weiß man das nicht.

Tillie Walden macht sich keine Mühe, hier zu erklären, wie es zu dieser Welt kam und wie sie funktioniert. Sie interessiert sich nur für ihre Charaktere: Es geht um Mia, eine junge Frau, die sich einer vierköpfigen Truppe von Frauen anschließt, die alte Häuser im All restaurieren. Zusammen begeben sie sich auf die Suche nach Grace, in die sich Mia einst im Internat verliebt hat und von der sie getrennt wurde. Die Reise führt sie in eine fremde Welt ans Ende des Universums.

Bis die Quest losgeht, vergehen erstmal über 300 der 530 Seiten mit Einführung der Charaktere und der Vorgeschichte. Die Suche ist also nachrrangig, eine Sache für den dramatischen Akt 4. Das Abenteuer liegt nicht in der wagemutigen Unternehmung, sondern im Alltag: Das Kennenlernen von Menschen, das Einfinden in die Gesellschaft, das Überwinden von Ängsten und Unsicherheiten. Am Ende geht es um etwas ganz einfaches: Einen verpassten Abschied nachzuholen. So wichtig das für Mia sein mag, so übertrieben und unglaubwürdig ist es, dass vier Frauen für so viel Sentimentalität einer Person, die sie kaum kennen, ihre Leben aufs Spiel setzen – und auch fast verlieren. Damit wird die Story dann doch zum Überlebensdrama im Weltall.

Tillie Walden inszeniert ihre Geschichte in einem sparsamen Zeichenstil, der an Mangas erinnert, und bedient sich einer zurückhaltenden Farbpalette. Die Figuren sind nicht immer leicht voneinander zu unterscheiden. Auch wenn ihre Charaktere ähneln sich. Es sind meist starke Frauenfiguren, die kein Blatt vor den Mund nehmen, viel fluchen und alle ein gutes Herz haben. Sympathisch, aber leider auch austauschbar.

Dafür entfalten die Panels vor allem am Ende ein psychedelischen Reiz, der an die Jupitermission aus 2001 erinnert und zugleich traumhaft surreal wirkt. Statt Aliens sehen wir seltsame Wetterphänomene und weiße Füchse. So wird wiederum eine Art Fantasy im Weltraum draus. Nur dass man diese wundersame Welt auch am Ende nicht versteht, muss man wohl auch nicht. Der Reiz bleibt (wie bei 2001) im Rätselhaften. Und wie bei jeder guten Weltraum-Story sind Fantasy und Science-Fiction auch hier bloß Kulisse für Charakterentwicklung und zwischenmenschliches Drama. Auch wenn hier etwas zu dick aufgetragen wird.

>> Tillie Walden: On A Sunbeam, First Second 2018.

Bernhard/Kummer: Die Ursache

Die Ursache

Residenz Verlag

Thomas Bernhard war wohl Österreichs berühmtester und umstrittenster Grantler. Spätestens als er 1975 mit Die Ursache den ersten Teil seiner Autobiografie veröffentlichte, dürfte klar gewesen sein, dass er allen Grund dazu hatte. Bernhard überlebte nicht nur Nationalsozialismus und Krieg, sondern auch eine Reihe von Demütigungen und Misshandlungen.

Lukas Kummer hat Die Ursache als Comic adaptiert. Schon wieder eine Literaturadaption? Ja, so ist das eben, wenn man Comics als Graphic Novels etablieren will: Man bedient sich bei der sogenannten hohen Literatur, um Feuilletonlesern zu zeigen, dass Comics auch anders können. Dieses Comic ist aber gar nicht so viel anders als seine Vorlage.

Es erzählt, wie Bernhard als 13-Jähriger ins Internat kommt, dort voller Angst und Verzweiflung lebt, immer wieder für nichts geschlagen wird, und nur Zuflucht findet beim Geigenspielen in der Schuhkammer, wobei er selbst da an Selbstmord denkt. Viele Schüler bringen sich auch tatsächlich dort um. Die andere Flucht besteht nur in den Luftschutzbunker, wo man ebenfalls Todesangst durchstehen muss, wenn die Fliegerbomben niedergehen.

„Wir werden erzeugt, aber nicht erzogen“, schreibt Bernhard. Es wird auch im Johanneum, einem katholischen Internat, nicht besser. Auch dort wird er geschlagen, auch dort wird an der „Vernichtung der Seele“ gearbeitet, am „Geistesmord“.

Kummer erzählt Bernhards Ursache nicht nach, er behält Bernhards Text bei und beschränkt sich darauf, Bernhards Text nur zu illustrieren. Dabei inszeniert er die Erinnerungen so trist und grau wie möglich. Immer wieder wird die beklemmende Eintönigkeit in achsensymmetrisch aufgebauten Splash Pages eindrucksvoll vor Augen geführt. Aber er verleiht dem Individuum kein Gesicht. Das ist einerseits der nüchtern-distanzierten Perspektive geschuldet, andererseits entspricht es der Entwürdigung durch die Nazis und Katholiken. Das hat aber den Nachteil, dass Emotionen auf der Strecke bleiben. Man ist mit sich allein.

Das Problem bei Bernhads Sätzen ist, dass sie zu lang sind, um in Captions zu passen. Kummer verteilt sie meist über mehrere Panels, was nicht nur den Lesefluss, sondern auch den Rhythmus stört, der den Stil von Bernhards Sprache ausmacht. Von daher ist dieser Versuch einer Comic-Adaption zwar gut gemeint, gelingt sogar darin, Bilder für die Sprache zu finden, scheitert aber doch am Wesentlichen.

>> Thomas Bernhard/Lukas Kummer: Die Ursache. Eine Andeutung, Residenz Verlag 2018.

Mark Millar: American Jesus

Jodie ist ein ganz normaler Zwölfjähriger in den USA – bis plötzlich ein Lastwagen auf ihn fällt. Anders als der Fahrer, der im Koma landet, trägt Jodie nicht einen Kratzer davon. Danach ist er plötzlich sehr gut in der Schule, er weiß auf jede Frage die richtige Antwort, ohne dass er etwas davon je gelernt hätte.

Jodie fragt sich, ob er vielleicht ein Mutant ist, wie die X-Men. Seine Eltern sehen gewisse Parallelen zu einem anderen „Superhelden“: zu Jesus. Auch der konnte mit zwölf Jahren plötzlich die Schriftgelehrten belehren. Könnte Jodie der nächste Christus sein? Es spricht vieles dafür: Jodie hat keinen leiblichen Vater, er kann Wasser in Wein verwandeln und er heilt sogar Krankheiten. Die Menschen strömen zu ihm herbei, um sich helfen zu lassen. Sie glauben an ihn. Aber ausgerechnet der Pfarrer der Gemeinde hat seine Zweifel an der Sache …

Mark Millars American Jesus ist dreist. Aber nicht so dreist, wie es zunächst scheint. Millar stellt die Frage: Was wäre, wenn einer wie Jesus heute auftreten würde? Seine Antwort fällt ausgesprochen human aus. Anders als in seinen anderen Comics überschreitet er hier nie die Grenzen des guten Geschmacks. Ihm geht es nicht darum, die Abgründe der Kirche zu zeigen, keine schlagenden Nonnen und perversen Priester, sondern um die Grundfrage des Glaubens. Er spart sich die üblichen Gewaltorgien und auch billige Provokation durch Blasphemie.

Millar entlarvt den menschlichen Makel, nur dann zu glauben, wenn man Zeuge von Wundern wird. Und zugleich erweist sich der Zweifel als berechtigt, weil Wunder allein noch keinen Heilsbringer machen. Die Auflösung, die Millar am Ende findet, wirkt nur auf den ersten Blick gewagt. Tatsächlich ist es nur konsequent gedacht, wenn sich der neue Jesus als etwas ganz anderes herausstellt, als man gedacht hat. Der Autor lässt vieles offen, besonders die Frage, ob es ein gutes oder schlechtes Ende ist und überhaupt die Antwort darauf, wer hier gut oder böse ist. Sein Jesus ist eben ein amerikanischer Jesus – und das allein spricht für sich.

>> Mark Millar/Peter Gross: American Jesus. Book One: Chosen, Image 2004, Neuauflage 2016.

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Nick Drnaso: Sabrina

Sabrina

Drawn & Quaterly

Was könnte schlimmer sein, als wenn die eigene Freundin spurlos verschwindet? Eigenlich nicht viel. Teddy fliegt nach Colorado zu seinem alten Schulfreund Calvin, der nimmt ihn bei sich auf. Calvin arbeitet für die Air Force in der IT-Sicherheit. Er soll befördert und versetzt werden, will aber lieber zu Frau und Kind nach Florida ziehen. Da taucht plötzlich Sabrinas Leiche auf, die ihres Mördern und dann geht auch noch ein Video viral, in dem der Mord gezeigt wird.

Als man denkt, schlimmer kann es nicht mehr kommen, verbreiten Trolle Verschwörungstheorien im Netz und Radio: Sabrina soll gar nicht tot sein, das Video nur Fake, alle Angehörigen seien bezahlte Schauspieler. Sabrinas Schwester, Sandra, bekommt Beileidsbekundungen und Todesdrohungen. Sandra wirft Teddy vor, er hätte Sabrina ohnehin nie geliebt und bricht den Kontakt mit ihm ab. Teddy ist wiederum so apathisch, dass er den ganzen Tag lang nur auf einer Matratze liegt und einem Verschwörungstheoretiker im Radio zuhört, bis er zum Messer greift. Und auch Calvin wird zum unfreiwilligen Ziel dieser absurden Spirale aus Lügen, die ihn bis in die Arbeit verfolgen.

Nick Drnasos Sabrina zeigt, wie der grausame Mord an einer Frau weite Kreise ziehen kann. Es entsteht eine paranoide Atmosphäre, die sich auf die Angehörigen und auf den Soldaten Calvin überträgt und ihn auch dann verfolgt, wenn der schlimmste Shitstorm vorbei zu sein scheint. Es ist eine leere, sterile Welt, die Drnaso zeichnet. Sein strenger, glatter Strich und seine flächige Farbgebung lassen keinen Raum für Schatten und Schraffuren, die Figuren wirken meist ausdruckslos.

An diesen Stil muss man sich erst mal gewöhnen, falls man es überhaupt kann. Vielleicht soll man das auch nicht, denn durch diese fast schon schematische Darstellung in den kleinteiligen Layouts fühlt man sich nie wohl, auch wenn das Schlimmste nie im Bild erscheint. Mord dient nur der Sensationslust einer abgestumpften Gesellschaft, die sich lieber Verschwörungen ausdenkt, weil ihr die Realität nicht krass genug zu sein scheint.

Was mit Sabrina tatsächlich passiert, bleibt aber in diesen 200 Seiten offen. Und so bleibt der Leser selbst zurück mit dem unguten Gefühl, nichts wirklich zu wissen, sondern nur sehr verunsichert zu sein, was von der Geschichte zu halten ist und wie sie ausgehen mag.

>> Nick Drnaso: Sabrina, Drawn & Quaterly 2018.

Mark Millar: The Magic Order

the magic order

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Wer nach Harry Potter eine Geschichte über Zauberei erzählen will, hat es schwer. Ob man ihn mag oder nicht: Harry Potter hat Maßstäbe gesetzt. Während das Franchise allerdings eingeht, weil es mit lahmen Filmen über „Fantastische Tierwesen“ zu Tode geritten wird, versucht es Netflix mit Sabrina und Mark Millar (Superior, Huck, Reborn) wagt mit The Magic Order einen Ansatz für Erwachsene.

Wobei, was heißt bei ihm schon wagen? Wenn Millar für eins bekannt ist, dann ist es seine Furchtlosigkeit beim Schreiben. Gleich zu Beginn erweist er sich als äußerst kreativ dabei, einen Mord zu inszenieren. Zwar lässt er sich eine Chance entgehen, sein Opfer beim Sex zu töten, er lässt den magischen Mörder brav abwarten, bis das Liebesspiel zu Ende ist, aber nur um etwas Unerhörtes zu tun: Er lässt ein Kind seinem eigenen Vater ein Messer in den Kopf rammen.

Nein, Millar kennt wirklich kein Tabu. Und wenn, dann nur um es zu brechen. Drastisch geht die Story weiter: Eine böse Zauberin, Madame Albany, tötet einen guten Zauberer nach dem anderen. Ihr Ziel ist es, selbst den „Magic Order“ übernehmen, der die Menschheit im Geheimen vor bösen Mächten schützt. Und dank ihres hochbegabten maskierten Attentäters, dem Venetian, gelingt der erste Teil des Plans auch zunächst. Es passiert eine Reihe sehr fies konstruierter Morde, bis am Ende die vier Familienmitglieder dran sind: der Vater, zwei Söhne, die Tochter Cordelia.

Wie üblich wird bei Millar viel gemetzelt und geflucht, es gibt übertriebene Gewalt und die typische durchgeknallte Schurkin, und bei all dem gibt es auch immer wieder etwas zu lachen. Besonders die flotten Sprüche und die kühnen Entfesselungsaktionen von Cordelia, dem schwarzen Schaf der Familie, sorgen für den Humor, der die Story bei aller Brutalität auflockert. Wie immer liegen aber Witz und Tragödie sehr nah beieinander, sodass es Millar immer wieder schafft, auch Empathie für seine Figuren zu wecken.

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Image Comics

Dank der Zeichnungen von Olivier Coipel ist The Magic Order auch etwas fürs Auge: Der präzise Strich mit seiner Liebe zum Detail lässt Figuren lebensnah erscheinen, während die düsteren Charaktere sehr abgründig inszeniert werden.

Leider enttäuscht Millar mit seiner Geschichte am Ende. Die Motivation des Mörders wirkt etwas weit hergeholt und die Lösung des Problems ist zu sehr Deus ex machina. Millars Problem ist häufig ein abgehetzter Erzählstil, der zwar nie langweilig wird, aber auch dazu führt, dass er sich nur sechs Ausgaben Zeit lässt, um in immer neue Welten einzuführen und seine Story zu erzählen. Dadurch wird man stets dann hinausgeworfen, wenn man sich gerade darin eingefunden hat.

Zwar steht auf dem Rücken des Bandes auch hier eine „1“, aber selten folgt ein zweiter Teil (außer bei Kick-Ass und Jupiter’s Circle/Legacy). Weil aber Netflix Millarworld gekauft hat und The Magic Order bereits unter dem Netflix-Label läuft, ist davon auszugehen, dass der Comic bald zur Serie adaptiert und spätestens dann auch fortgesetzt wird. Und wer weiß, vielleicht wird es dann wirklich etwas wie ein neuer Harry Potter. Einer für Erwachsene. Das Potenzial wäre da.

>> Mark Millar/Olivier Coipel: The Magic Order, Image 2019 (dt. Der magische Orden, Panini 2019).

Jeff Lemire: Gideon Falls

Father Fred, ein alter Pfarrer, übernimmt eine Gemeinde in Gideon Falls, einem kleinem Ort auf dem Land. Nicht nur der Alkohol ist sein Problem: In der ersten Nacht erscheint ihm sein Vorgänger, der eigentlich tot sein müsste, er folgt ihm ins Kornfeld, sieht eine schwarze Scheune aus dem Nichts auftauchen und verschwinden, kurz darauf liegt eine Leiche vor ihm. Er gerät unter Mordverdacht. Niemand glaubt ihm …

Aber da gibt es noch Norton, einen jungen Mann, der in einer größeren Stadt den Müll nach alten Holzsplittern und Nägeln durchsucht. Er sammelt die Teile, um daraus eine schwarze Scheune zu bauen, ein Bild, das ihn seit der Jugend verfolgt. Norton hat offenbar psychische Probleme, geht zur Therapie, aber auch seine Therapeutin glaubt ihm nicht – bis sie selbst Dinge sieht, die sie sich nicht erklären kann.

Autor Jeff Lemire hat so ziemlich jedes große Comic-Genre abgegrast: Science-Fiction, die Dystopie, Superhelden und das ganz bodenständige Drama. Mit der Serie Gideon Falls traut er sich (wie schon bei The Underwater Welder) in den Bereich von Horror und Mystery vor. Das Thema Wahnsinn ist ihm seit Moon Knight nicht fremd, und traurige, gebrochene Charaktere sind ohnehin schon immer sein Spezialgebiet gewesen. Hier bringt er alles zusammen, und wieder auf dem Land, wo auch schon Essex County und Black Hammer spielen.

Man merkt an Gideon Falls, dass Lemire ein Twin Peaks-Fan ist: Die schwarze Scheune erinnert als Ort des Bösen an die schwarze Hütte (black lodge) aus der Serie von David Lynch, hier wie da gelten eigene, zunächst undurchsichtige Gesetze. Es gibt auch hier eine Geheimgesellschaft von Lokalhelden, die dagegen kämpft (Ploughmen), in Twin Peaks sind es die Bookhouse Boys, der Held ist in beiden Fällen ein Fremder von außen, und wenn eine Schachtel eingewickelt in Folie erscheint („wrapped in plastic“), muss man einfach unweigerlich an die tote Laura Palmer denken. Die Anleihen sind jedoch nur angedeutet. Lemire bringt so viel eigene Phantasie ein, dass seine Geschichte auf eigenen Füßen steht. Gekonnt baut er Spannung auf und überrascht in jedem Kapitel mit neuen Enthüllungen, die zeigen, dass hinter der Oberfläche eine umfangreiche Mythologie mit vielen Schaurigkeiten steckt.

Ein wichtiger Träger der Geschichte sind die Bilder, die Andrea Sorrentino für sie findet. Lemire hat bereits an Green Arrow und Old Man Logan mit dem Italiener zusammengearbeitet, aber hier übertrifft sich der Künstler mal wieder selbst. Sorrentino hat einen Sinn für düstere, beklemmende Stimmungen, das er hier mit harten Schatten, unruhigen Schraffuren und furchterregende Gestalten voll ausleben kann, ganz besonders den mysteriösen, jokerhaft grinsenden Mann, der immer wieder starrend aus der Finsternis auftaucht.

Sorrentino beweist hier aber auch sein Faible für ungewöhnliche Perspektiven und experimentelle Layouts. In Gideon Falls gibt es immer wieder Doppelseiten, in denen die Panels zersplittern und sich überlappen, sie erscheinen kreisförmig, wellenförmig und einmal sogar in einer Reihe von Würfeln, die auf jeder Seite eine Sequenz aus einer anderen Perspektive zeigen. Manche Seiten sind regelrecht überflutet von unzähligen winzigen Panels, man muss ganz genau hinschauen, einige Male muss man das Heft oder Buch sogar drehen, um der Handlung folgen zu können.

So wird das Lesen selbst zu einem einzigartigen Erlebnis, weil man sich nicht nur ständig fragt, was als nächstes passiert, sondern auch die Form hat etwas beunruhigend Unstetes an sich, sodass man sich in diesem Comic ständig neu einrichten muss. Sorrentino fordert die Leser visuell heraus, dank ihm bekommt die Geschichte eine größere Tiefe und lässt erahnen, dass da noch viel mehr kommen wird, worauf man sich freuen kann – oder besser gesagt: Was man fürchten muss. Ohne zu wissen, welche Wendungen die Story in den nächsten Bänden nehmen wird, kann man sagen: Gideon Falls ist jetzt schon ein Meisterwerk der Comic-Kunst.

>> Jeff Lemire/Andrea Sorrentino: Gideon Falls Vol. 1: The Black Barn, Vol. 2: Original Sins, Image Comics 2018/2019 (dt. Gideon Falls Bd. 1: Die Schwarze Scheune, Splitter Verlag 2019; Band 2 erscheint im September).

Nate Powell: Come Again

Come Again (Comic)

Top Shelf

Das Jahr 1979. Eine Die alleinerziehende junge Mutter Haluska (Hal) wohnt mit ihrem Sohn Jake in einer kleinen Kommune in Arkansas. Man verkauft selbstgebastelte Traumfänger und anderen Kram an Touristen. Eigentum gibt es nicht, jedem gehört alles, jeder weiß alles übereinander. Außer, dass Hal eine Affäre mit Adrian hat, der wiederum mit Whitney zusammen ist und einen Sohn, Shane, mit ihr hat. Hal und Adrian treffen sich im Wald, in einer geheimen Höhle mit einer Holztür.

Eines Tages finden die Kinder Jake und Shane die Höhle, sie steigen ein, doch nur Jake kommt zurück. Als die Eltern nach Shane suchen, ist der Eingang zur Höhle spurlos verschwunden. Und mit dem Kind auch die Erinnerung an ihn. Haluska ist die einzige, die sich noch an ihn zu erinnern scheint.

Come Again erzählt die Geschichte eines Geheimnisses, das eines bleibt. Es ist nur die Rede vom „secret eater“, der über die Erinnerungen herrscht und Kinder entführt. Statt eines Geistes oder Monsters bekommt man nur seine Augen zu sehen, zwei winzige, weiße Punkte in der Finsternis. Das unbestimmte Wesen, das in der Höhle haust, wird zum Anlass, dass sich die Heldin mit ihren Schuldgefühlen auseinandersetzt. Für sie wird das Erlebnis des kollektiven Vergessens zu einer Art Sühne, die über eine Katharsis zu einem Neuanfang führt.

Nate Powell (March) schafft es, eine einzigartige Atmosphäre für seine Mysterystory zu schaffen. findet schaurige albtraumhafte Bilder für seine Geschichte, in denen nicht nur die Figuren sondern auch die Natur überaus lebendig erscheint, obwohl er die Ausgestaltung auf das Nötigste reduziert und viele weiße und schwarze Freiflächen lässt. Die Farbpalette beschränkt sich auf einzelne blasse Rottöne, in Rückblenden Grüntöne, in der Höhle erscheint das wenige Licht gelb und violett, während die Seiten fast in völliger Finsternis versinken. Powell transportiert mehr durch die Stimmung als durch Worte. Es ist eine nachdenkliche Geschichte, die mehr im Unbewussten, auf der emotionalen Ebene anspricht, als auf einer intellektuellen.

Nicht von ungefähr ist Come Again für den Eisner Award 2019 nominiert. Eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor.

>> Nate Powell: Come Again, Top Shelf 2018.

Jeff Lemire: The Quantum Age

quantum age

Dark Horse

Der überfleißige Jeff Lemire lässt nichts anbrennen. Während die Leser seiner Black Hammer-Serie auf den vierten Band warten, vertreibt er ihnen die Zeit mit immer wieder mit Spin-offs. Normalerweise sind solche Geschichten in Superhelden-Comics Füllmaterial, Lemire aber erweitert damit seine Welt um Charaktere (wie etwa den Schurken Sherlock Frankenstein und den Helden Doctor Star) und nun auch eine ganz neue Zeit: das Quantum Age.

100 Jahre später spielt der neue Band, in einer Zeit, in der die alten Helden entweder tot oder vergessen sind, Black Hammer ist immer noch eine Frau, aber im Ruhestand. Die Welt wird beherrscht von einem Tyrannen mit Superkräften, der einst selbst ein Helden der Quantum League war. Nach einer Invasion böser Marsianer mussten die Helden das ultimative Opfer bringen, um die Welt zu retten, aber das führte zur Diktatur. Nun sammeln sich die verbliebenen Good Guys, um den Schurken zu besiegen.

Die Quantum League ist Lemires Hommage an die League of Superheroes von DC, dabei wird der Cyborg Archive zum Brainiac 5-Ersatz, der die Funktion des Roboters Talky Walky übernimmt. Ansonsten ist es eine ziemlich traurige Truppe, die hier zusammenfindet: Barbaliteen ist der letzte Marsianer, Modula ist eine lilafarbene Alienfrau, die ihre Beine verloren hat und nun Kette raucht, Erb ist ein gürteltierartiger Telepath, der von tiefer Skepsis und Grammatikproblemen geprägt ist. Damit erinnert die neue Quantum League auch eher an eine Chaostruppe wie die Guardians of the Galaxy.

In mancher Weise erinnert der Plot an die Avengers-Filme Infinity War und Endgame. Hier wie da geht es um eine Mission Impossible gegen einen schier unbesiegbaren Gegner. Hier wie da geht es um ein Opfer, das vielen den Tod bringt, aber auch viele retten soll. Hier wie da berechnet ein Superhirn alle Wahrscheinlichkeiten vieler Pläne. Hier wie da wird eine Zeitreise in Erwägung gezogen, um das Schlimmste zu verhindern, bevor es passiert. Allerdings: Für sein Dilemma findet Lemire am Ende eine geschickte und originelle Lösung, die nicht auf den üblichen Kampf zwischen Gut und Böse hinausläuft.

Wie immer schafft es Lemire, in nur sechs Kapiteln einige Charaktere mit Leben zu füllen und hier sogar noch stärker den Bogen zur Hauptserie zurückzuschlagen. Nur der Schurke kommt dabei zu kurz, obwohl er deutlich Potenzial hätte, mehr als bloß ein böser und fast allmächtiger Tyrann zu sein. Der Comic leidet auch auf der visuellen Ebene, denn Zeichner Wilfredo Torres inszeniert die Welt zu glatt, detailarm, fast schon steril und seine Figuren lassen an Ausdruck zu wünschen übrig. An die Sperrigkeit eines Dean Ormston, der Black Hammer seinen Charakter verleiht, kommt Torres nicht heran. Die knallbunten Farben von Dave Stewart können gegen diesen Eindruck nur wenig ausrichten.

Mit The Quantum Age beweist Lemire zwar große Ambitionen, indem er zwar noch einen 100 Jahre währenden Erzählrahmen absteckt und sogar weit darüber hinausweist, was die Fans auf noch viele Geschichten aus dieser Welt freuen lässt. Die Zeichnungen hindern den Comic aber daran, sein volles Potenzial zu entfalten.

>> Jeff Lemire/Wilfredo Torres: The Quantum Age, Dark Horse 2019.

Jeff Lemire: Doctor Star

doctor star

Dark Horse

Wer nach den Sternen greift, übersieht leicht die Erde, auf der er steht. Diese Lektion lernt der Wissenschaftler Jim Robinson auf schmerzlichste Art. In den 40ern wird seine Forschung von der US-Regierung gefördert, um eine Waffe gegen die Nazis zu erschaffen, er entwickelt einen Energiestab, mit dem er durchs All fliegen und Schurken bekämpfen kann. Robinson wird zum Superhelden Doctor Star und schließt sich der Liberty Squadron an.

Doch nachdem er die Zivilisation eines fernen Planeten vor einem Ungeheuer bewahrt, stellt er bei der Rückkehr fest, dass er 18 Jahre weg war. Seine Frau lebt als verbitterte Alkoholikerin in Armut, sein Sohn zieht in den Vietnamkrieg und will nichts mehr von ihm wissen. Schließlich erkrankt der Sohn auch an Krebs und Robinson versucht, seinen Fehler wiedergutzumachen.

Lemires Doctor Star ist eine Hommage an DCs Superhelden Starman, der bereits 1941 seinen ersten Auftritt hatte, aber auch an den Autor James Robinson, der der Figur in den 90ern ein vielgelobtes Revival verlieh. Mit diesem Spin-off baut der Autor sein Black-Hammer-Universum weiter aus. Nachdem er mit Sherlock Frankenstein einem Schurken mehrere Ausgaben widmete, bis dieser keiner mehr war, führt er hier vor, wie ein Held scheitert, obwohl er heldenhaft handelt.

Wie üblich besteht der Schwerpunkt der Geschichte nicht in der Superhelden-Action, sondern in dem menschlichen Drama, das durch den Heldeneinsatz eine tragische Wendung bekommt. Robinson erzählt seine Geschichte seinem Sohn am Krankenbett und erhofft sich dadurch Vergebung. Lemire schreibt wie gewohnt feinfühlig und macht die Leiden der Figuren nachvollziehbar.

Zeichner Max Fiumara reichert mit seinen detailreichen Illustrationen sowohl die stillen Momenten als auch die Actionsequenzen mit einem Ausdruck an, der dem der Worte in nichts nachsteht.

Damit ist Doctor Star and the Kingdom of Lost Tomorrows ein Comic, das sich zwar gut ins „Hammerverse“ einfügt, aber auch ohne Kenntnis der Hauptserie gut lesbar ist und sogar Lust auf mehr macht. Hier erscheinen die Spin-offs nämlich nicht wie eine Nebensache.

>> Jeff Lemire/Max Fiumara: Doctor Star and the Kingdom of Lost Tomorrows, Dark Horse 2018 (dt. Doctor Star und das Reich der verlorenen Hoffnung, Splitter 2018).